Heute beginne ich eine Reihe – eine Reihe von Kurzgeschichten. Ich werde versuchen eine pro Monat zu schreiben, angedacht sind insgesamt 12 Teile. Alles zusammenhängend, natürlich. Freue mich sehr über Feedback und Anregungen. Viel Spaß!
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Als Geomar zwischen den Bäumen hindurch spähte, konnte er die Sonne am Horizont das Ende des Tages einläuten sehen. Mit gepressten Lippen schüttelte er den Kopf und verfluchte still den einarmigen Bauern, der ihm diese Abkürzung empfohlen hatte. Immer wieder fragte er sich, ob es von vornherein der falsche Weg gewesen oder er nur nicht richtig abgebogen war.
Bei jedem weiteren Schritt versuchte Geomar im schwächer werdenden Zwielicht einen sicheren Platz für seine Füße zu finden, während er gleichzeitig grübelte, wie er aus diesem Wald heraus kommen würde, bevor stockdunkle Nacht hereinbrach. Nach allem was er wusste, war der Forst nicht gefährlich. Keine wilden Stämme, keine Monstrositäten, schlimmstenfalls Wölfe und die griffen keine Menschen an. Zumindest sagte man das.
Doch darauf verlassen, was die Leute sagten, wollte sich Geomar ungern. Immerhin hatte es ihn in diesen riesigen Wald verschlagen, anstatt sicher nach Rotunhelm zu führen.
Die letzten Sonnenstrahlen brachen zwischen dicken Baumstämmen und dichtem Geäst hindurch, und mit ihnen schwand auch der letzte Rest Wärme. Geomar zog den Mantel etwas enger und begann seine Möglichkeiten zu überdenken, während er weiter Schritt um Schritt dem schmalen Pfad folgte.
Zunder war ihm vor ein paar Tagen ausgegangen und sein Wissen über das Feuermachen ohne Hilfsmittel war unglücklicherweise stark begrenzt. Selbst eine Fackel wäre jetzt ein Kleinod von unschätzbarem Wert, aber obwohl er noch etwas Teer mit sich führte und Stoff würde entbehren können, wäre die Flamme wieder das Problem. Ohne Licht konnte es bald gefährlich werden einfach weiter zu laufen. Ein falscher Tritt, eine übersehene Wurzel konnten einen gebrochenen Knöchel oder Schlimmeres bedeuten. Der Mond zog zwar irgendwo, da war sich Geomar sicher, mit fast voller Scheibe an dem wolkenlosen Himmel empor, doch dank des Blätterdaches über ihm war das keine Hilfe. Er hatte seinen Schlafsack dabei und auch eine passable Decke, aber ohne wärmendes Lagerfeuer oder wenigstens ein Zelt würde die nächtliche Kälte ihn dahin raffen, davon war er überzeugt. Schon jetzt begannen seine Zähne zu klappern.
Die beste Option schien weiter seinem Weg zu folgen, langsam aber stetig, und auf eine Lichtung, ein Haus oder ein Wunder zu hoffen.
Ein schwaches Licht drang an sein Auge. Entfernt, dumpf und kaum mehr als ein Flackern, aber da war etwas. Sein Ursprung musste Abseits des Weges linkerhand liegen. Kurz schoss Geomar der Gedanke an Banditen durch den Kopf, doch selbst ausgeraubt zu werden schien lohnend im Angesicht der bitterkalten Nacht und dem tauben Gefühl, das sich in seinen Füßen ausbreitete. Alle Sorgen um Wegelagerer – was würden solche Leute auch tief im Wald machen, wo es keine Karawanen gab – stieß er beiseite und begann sich einen neuen Pfad durch das Unterholz zu bahnen.
Er ging noch langsamer als zuvor, immerhin durchquerte er pure Wildnis und war möglicherweise der erste Mensch dessen Stiefelabdrücke sich hier in die Erde bohrten, und hielt sich immer wieder an Bäumen fest um zu tasten und zu prüfen wo er den nächsten Halt finden würde. So kurz vor einem rettenden Feuer wollte er sich keine Beine mehr brechen.
Dem Licht kam er tatsächlich näher. Der Schein wurde deutlicher, immer öfter tanzten Schatten in der Ferne, zeugten von einem ansehnlichen Lagerfeuer. Es mochte der Unterschlupf einer Diebesbande sein, ihr Rückzugsort im tiefsten Wald, den kein Gardist der Wache und kein Legionär des Heeres finden würden.
Zumindest gäbe das eine gute Geschichte.
Stimmen oder Instrumente waren nicht zu hören, aber der Wind trieb zumindest Brandgeruch herüber, als würde dort etwas auf dem Feuer verbrutzeln. Die letzten Stunden in heller Panik, verängstigt weil er nie den Weg aus dem verfluchten Forst finden würde, hatte er nicht ans Essen gedacht, doch bei dem Geruch hörte Geomar sofort seinen Magen um Gnade und Füllung flehen. Gebratener Fasan, das wäre jetzt sein Wunsch.
Geomar traute sich nicht die Schritte zu beschleunigen, eine gewisse Skepsis füllte weiterhin einen zurückgezogenen Teil seines Verstands und die Sorge um feuchte Wurzeln und unerwartete Löcher hielt ihn ebenfalls zurück.
Endlich war er so nah, dass er auch Stimmen hörte. Leise noch, entfernt, aber beruhigend menschlich oder möglicherweise zwergisch. Das Feuer warf einen deutlichen Lichtschein in den Wald hinein, inzwischen gelegentlich auch selbst in Erscheinung tretend, nicht mehr bloß als Reflexion zwischen Ästen und Stämmen.
Dann konnte er die Standarte sehen.
Nur einen Teil, leider, aber farblich unverkennbar eine Standarte des Heeres von König Ganymedes. Er hatte eine Abteilung Legionäre gefunden und jubelte innerlich. Nur mühsam beherrschte er sich nicht loszurennen, kletterte dafür aber mit frohem Mut über die Büsche in seinem Weg, dem sicheren Hafen näher und näher kommend. Bis zu der Lichtung waren es höchstens noch fünfzig Meter.
Eine kräftige Hand packte seine Schulter.
»Was machen wir denn Mitten in der Nacht, Mitten im Wald?«, die kräftige Männerstimme knisterte unnatürlich.
Geomar drehte seinen Kopf und konnte im schwachen Restlicht des fernen Lagerfeuers nur die Finger sehen, die seine Schulter umfasst hatten. Sie waren verbrannt, schwarz und tot.
Unnachgiebig drückte ihn die Kreatur vorwärts. Geomar wagte weder zu rebellieren noch einen weiteren Blick nach hinten zu riskieren. Sie kamen dem Lager jetzt schnell näher, die Stimmen wurden deutlicher, die Wärme des Feuers spürbar. Seinen Blick hatte Geomar auf den Boden gerichtet, stets bemüht sich keine Fehltritte zu leisten, aber auch in Angst um das, was er gleich zu sehen bekam.
»Seht, da kommt Lex… und er hat jemanden dabei.«, die hellere Männerstimme knisterte ebenfalls. Unwillkürlich hob Geomar den Kopf. Das Erste was ihm ins Auge sprang, waren nicht die Männer oder das Feuer. Es war die Standarte. Das Banner war verrußt, teilweise angebrannt und dreckig, und die Heraldik unbekannt. Keine normale Legion wäre mit solch einem besudelten Stück Stoff unterwegs. Geomar schwante Übles.
Die Männer die um das Feuer saßen wandten sich ihnen zu. »Ich habe ihn dort hinten ohne Fackel im Unterholz stolpernd gefunden.«, tönte es hinter ihm. »Ich vermute er ist allein.«
Geomar wagte nun, hauptsächlich getrieben von Neugier, seinen Blick über die legionärsähnlichen Geschöpfe vor ihm gleiten zu lassen. Sie alle waren grausig entstellt, übersäht mit Brandnarben und geschwärztem Fleisch. Ihre Augen waren tief in die Höhlen eingesunken, kaum mehr als funkelnde Punkte in dunklen Grotten und den meisten fehlten die Haare. Wie zum Hohn trugen sie Rüstungen und Insignien die auf die Armee des Königs deuteten, auf lebende Legionäre, auch wenn keines von ihnen mit einem lebenden Menschen verwechselt werden konnte. Eines von ihnen, hochgewachsen mit einst kantigen Gesichtszügen, stand auf und drehte sich zu Geomar. Die Zeichen auf seinem mächtigen, stählernen Schulterpanzer zeichneten es als Offizier der Legion aus.
»Wie kommst Du darauf, Lex?«, seine Betonung ließ keinen Zweifel daran, dass er das Sagen hatte.
Die Kreatur hinter ihm hielt an, nur wenige Schritte trennten sie noch vom Kreis ihrer untoten Kameraden. »Schau Dir den Wurm an. Ein einsamer Wanderer, nicht einmal bewaffnet. Der ist keine Gefahr.«
»Gewöhn Dir endlich ab solche Schlüsse für mich zu ziehen und geh auf Posten.«, der verbrannte Offizier drehte sich von ihnen weg und gab ein Handzeichen. »Relix, geh auch. Ich will keine Überraschungen heute Nacht.«
Der Schraubstock an seiner Schulter löste sich von Geomar und er konnte sich entfernende Schritte hören. Ein weiterer Untoter, ein Wesen mit Resten eines einst stattlichen Bartes, stand vom Feuer auf, nahm einen Speer und verließ die Lichtung.
»Nun, Wanderer, was bezweckt ihr in diesem Wald und weshalb nähert ihr Euch unserem Lager ohne Fackel oder Laterne?«, knisterte der einstige Legionär aus seinem lippenlosen Mund.
Verängstigt sah Geomar empor zum Monster, dass näher gekommen war und mit seinen tiefen, ausdruckslosen Augen in seine Seele einzudringen schien.
»Ich… woll… wollte nur nach Rotunhelm.«, bekam Geomar unter mühen hinaus.
Gelächter folgte aus dem Kreis, verstummte jedoch abrupt, als der Offizier seinen Arm erhob.
Der Untote wartete einen Moment, Stille, unterbrochen nur vom knistern des Feuers und dem Pochen von Geomars Herz, umgab beide. »Nachts?«, rasselte das Geschöpf endlich.
Hilfesuchend blickte sich Geomar um. »Der Bauer… ich, er hat gesagt, das wäre eine Abkürzung durch den Forst! Aber ich habe den falschen Weg genommen oder… die Nacht kam zu schnell und ich wusste mir nicht zu helfen als dem Lichtschein Eures Feuers zu folgen.«
Erneut nahm sich das Monster Zeit. Ein Stück tote, herabhängende Haut an seinem Kinn fesselte Geomars Blick. Schließlich formten die Reste eines Gesichtes ein gruseliges Lächeln.
»Du musst hungrig sein. Setz Dich zu uns, wir haben reichlich.«
»Was hast Du da, kleiner Mann?«, fragte ihn ein hünenhafter Untoter mit kleinem Kopf und riesigen Pranken und deutete auf die Glaskugel die in ihrem Netz an Geomars Rucksack hing.
»Ich… das ist eine seltene, verzauberte Kristallkugel der Rahanesh aus Muhamesad.«, seine Stimme klang, trotz des Versuches stolz zu klingen, brüchig und unsicher. Trotzdem nickte der Hüne anerkennend.
Ein anderes Monster, kleiner als die meisten im Kreis, aber nicht weniger abscheulich entstellt, schaltete sich interessiert ein. »Magisch? Beeindruckend. Sagt, guter Mann, was macht Ihr mit einem seltenen magischen Ball?«
»Kristallkugel. Ich bin wandernder Schausteller, Wahrsager und Geschichtenerzähler. Vielleicht habt ihr vor mir gehört? Geomar Nebel, der Wunderbare, werde ich genannt.«
Während sich fast alle toten Legionäre unschlüssig ansahen, beugte sich ein weiterer vor. Sein schmaler Körperbau und das wenige, was das Feuer von seinen Gesichtszügen übrig gelassen hatte, ließen Geomar glauben, dass er jünger sein müsste als die anderen.
»Wahrsager? Ui, legst Du uns die Karten? Bitte.«
Doch noch bevor Geomar etwas erwiedern konnte, richtete sich der untote Offizier auf und gebot mit einem Handzeichen Schweigen.
»Lasst den Herrn Nebel in Ruhe essen. Immerhin hatte er eine anstrengende Reise durch den Wald.«
»Nun, mein Freund…«, begann Geomar mit inzwischen gefestigter Stimme. »Ich würde zwar gerne Essen, mich würde aber auch brennend interessieren, wer ihr eigentlich seid.«
»Brennend?«, mit verengten Augen und zweifelnd hochgezogener Nase, oder was davon übrig war, starrte der Offizier jetzt auf ihn nieder.
»Ja, nein, ich meine… ich wollte nicht…«, hektisch gestikulierte Geomar, bemüht das Fettnäpfchen in dem er steckte alsbald zu verlassen.
Doch die Untoten lachten. »Nur ein Spaß, junger Freund. Mein Name ist Lucius Iunius Hadrian, Dekurio der vierzehnten Kohorte der Legion des Kaisers, und das sind meine Männer.«, Lucius formte einen Halbkreis mit seinen Händen, die Legionäre nickten stumm.
»Vierzehnte Kohorte? Aber Lucius, die Legion Ganymedes besteht aus zehn Kohorten. Und wieso überhaupt kaiserlich?«, verwirrte blickte Geomar zwischen den grausig lächelnden Gestalten hin und her.
»Damals. Das waren andere Zeiten. Wir standen in den Diensten des Kaisers Toherium. Seine Armee umfasste dreizehn reguläre Kohorten – und uns. Ich fürchte, das war vor Deiner Zeit.«
Geomar schüttelte den Kopf. »Kaiserreich… Toherium… das ist über zweihundert Jahre her. Toheriums Großreich ist nach der berühmten Schlacht von Lebrosa zusammengebrochen…«
»Davon haben wir gehört…«, warf der junge Untote ein, »Aber da gehörten wir schon nicht mehr dazu.«
»Aber, was bedeutet das? Wer seid ihr?«
»Für die Generäle von Toherium waren wir eine Eliteeinheit. Bei Problemen, die zwar die Schlagkraft einer Kohorte von fünfhundert Mann bedurften, für deren Lösung die Armee aber nicht in Bewegung gesetzt werden konnte, hat man uns geschickt. Als der Krieg begann, der Krieg der schließlich zum Fall des Kaiserreiches führte, hat man uns in eine Falle gelockt. Die Feinde aus den südlichen Landen, verflucht seien ihre Seelen, haben die Generäle dazu gebracht, uns in eine Talsohle, zu einem kleinen Dorf zu befehlen. Dort hat man uns mit Immerfeuer aufgelauert, hat das Dorf in Brand gesteckt. Bei dem Versuch so viele Bewohner zu retten, wie wir konnten, wären wir alle verbrannt.«
»Ich will euch nicht zu nahe treten, aber es sieht aus, als wäret ihr verbrannt…«
Lucius schnaufte verächtlich. »Ja, gebrannt haben unsere Körper. Aber Dank der Gnade der Flammen, des Elements Feuer selbst, war das nicht das Ende unserer Geister. Heute sind unsere Körper noch stärker, noch widerstandsfähiger, und wir dienen dem Feuer selbst.«
»Also… gehorcht ihr nicht dem König? Dem, dessen Banner ihr noch immer tragt?«
»Gehorchen.«, der hochgewachsene Decurio legte den Kopf schief. »Was bedeutet das schon? Wir arbeiten auch für deinen König, in seinem Auftrag sozusagen, aber wir handeln stets im Sinne des Feuers. Die Berater des Königs nennen uns Das Verbrannte Dutzend.«
»Ich hasse diesen Namen.«, mischte sich erneut der junge Verbrannte ein. »Wir waren zwölf, bis uns das Feuer verschlang. Heute sind wir nur noch Elf.«
Geomar ließ seinen Blick über die vielen verbrannten, toten Gesichter gleiten. »Ich bin weit gereist. Ich habe Geschichten aus allen Ländern gehört, die Wunder von Muhamesad gesehen ebenso wie die endlosen Weiden von Wonnern und den Ozean der siebenundsiebzig Winde. Aber von einem verbrannten Dutzend, von mächtigen untoten Kriegern im Dienste von Feuer oder König, habe ich wahrlich noch niemals gehört.«
»Vielleicht ist es Euch entgangen, aber…«, der kleinere Legionär der sich vorher für die magische Kristallkugel interessiert hatte, ergriff das Wort. »So wie wir aussehen, können wir in bedauerlich wenigen Städten und Schenken mit unseren Taten prahlen oder von unseren Abenteuern berichten. Wir arbeiten im Hintergrund, wir halten uns zurück und lösen die Probleme, damit die Menschen, Zwerge, Trolle und Elfen weiter ihr kleines niedliches Leben leben können.«
»Das kann so nicht bleiben!«, energisch stand Geomar auf und blickte Lucius in die Augen. Sein Unbehagen beim Anblick der tiefen dunklen Löcher war fast verflogen. Fast. »Erzählt mir eure Geschichten. Jeder. Und ich werde sie in die Welt tragen, die Legenden, die Heldentaten und ruhmreichen Siege des verbrannten Dutzends.«
Lucius schien darüber nachzudenken. Dann sprach er nickend. »Vielleicht gibst Du uns dann einen besseren Namen, in Ordnung?«
»Erzählt mir alles, von Anfang an, und mir wird ein Name einfallen, dessen Klang die Leute erschauern lassen wird.«
Fortsetzung folgt…