Rachehagel – Die Asche Legion Teil V

Rachehagel

Jetzt kommt also mein Part? Anders als meine geschätzten Kameraden hier, werde ich Dich nicht mit jedem Detail langweilen, dass zwischen dem Beischlaf meiner Eltern, der zu meiner Empfängnis geführt hat, und der Begegnung mit dem ehrenwerten Lucius dort, passiert ist.
Lass mich Dir stattdessen die Geschichte erzählen, wie ich zu dem Beinamen ›Rachehagel‹ und diesem wunderbaren Bogen gekommen bin. Sieht er wie ein normaler Bogen aus dunklem Holz für Dich aus? Nur zu, fass ihn an. Du siehst, Deine Hand gleitet hindurch als wäre dort nichts. Woran das liegt? Deine Augen erzählen Dir, was Dein Verstand gerne glauben möchte: Bögen sind aus Holz. In Wahrheit ist diese Waffe aus purer Schattenessenz gebogen, hergestellt auf einer Werkbank aus reiner arkaner Energie. Aber ich schweife ab.

Wenn man zum ersten Mal im Hafen von Girgasum an Land ging, fiel jedem Besucher, neben dem starken Ölgestank, die große Zahl fehlender Finger bei den Hafenarbeitern auf. Die ärmeren Zwerge der Republik Malon neigten dazu, ihre weniger wichtigen Gliedmaßen – kleine Finger, große Zehen – an die Nekromanten zu verkaufen, welche die Mehrheit der Magier der Republik ausmachten. Nachdem ich der kaiserlichen Armee entkommen war, blieb nur der Weg über den Ozean nach Westen um vor den Häschern wirklich sicher zu sein. So setzte ich meinen Fuß auf malonschen Boden, ohne zu ahnen was mich hier erwarten würde.

Alles was ich von Malon wusste, war das überwiegend Zwerge dort lebten. Und so ist es wirklich. Als normaler Mensch kann man über beinahe jeden Einwohner des Landes blicken. Auf dem Kontinent gibt es nur zwei kleinere Menschenreiche – die anderen Länder und Freistädte werden von Zwergen kontrolliert. Und keines dieser anderen Länder konnte Malon leiden. Der Hang der Zauberer aus Malon zu dunklen Praktiken und Nekromantie, Dämonenbeschwörung und Fleischopfern, hat dem Land eine schlechte Reputation beschert. Als ich ankam, war die Lage angespannt, aber ein Krieg noch nicht greifbar. Die Zwerge gingen ihrem normalen Alltag nach, handelten, produzierten und verkauften manchmal ihre zusätzliche Niere.

Es klingt für andere Kulturen befremdlich, beinahe falsch oder böse, aber so ist das nicht. Die Maloner stellen sich auf den Standpunkt, dass alle Formen der Magie natürlich sind und gleichberechtigt nebeneinander stehen. Wenn man für manche Praktiken Blut, Fleisch und Eingeweide benötigt, dann ist das nur ein notwendiges Übel, mehr nicht. Niemand wird gezwungen, keinem Verbrecher werden Hände und keinem Kriegsgefangenen Beine abgehakt. Die Zwerge die ich in Malon kennenlernte waren ehrliche, gute und hart arbeitende Leute.
Als Fremdling, insbesondere als Mensch, gibt es nur wenige Anstellungen die mir zur Verfügung standen. Ich merkte bald, dass ich als passabler Bogenschütze der ich war, nur als Söldner eine Chance hatte. Aber die meisten Händler zogen zwergische Beschützer vor, die Regierung stellte ein rein zwergisches Heer. Mit Hängen und Würgen schwang ich mich von einem kleinen Engagement zum nächsten.

Im zweiten Winter nach meiner Ankunft wurde es so eng, dass ich in Erwägung zog einen Zeh zu verkaufen. Für menschliches Gewebe zahlten die Nekromanten extra, ich hätte monatelang keine Geldsorgen gehabt. Die Alternative wäre gewesen, das Land zu verlassen, doch inzwischen waren die Spannungen zwischen den Nationen so groß, dass die Grenzen schwer zu passieren waren und ich als Mensch aus Malon kaum irgendwo bessere Perspektiven gehabt hätte. Für den Seeweg zurück zu meinem Heimatkontinent genügten meine Reserven nicht einmal im Traum und als Matrose ging ich auch nicht durch.
Ich war schon auf dem Weg zum nächsten Fersenschneider, so nannten die Zwerge die Händler für kleine Gliedmaßen, wenn auch zurückhaltend, als ich einen anderen Söldner traf. Eine Fügung des Schicksals hatte ihn mit einer schweren Aufgabe beglückt, die üppig bezahlt werden sollte und die er sich nicht alleine zutraute.
Er sollte einen Riesen töten.
Der Mann war Fremd, wie ich, ein Mensch aus Ranesh, seinen Namen habe ich lange vergessen. Nennen wir ihn Abib, in Ordnung? Wir kannten uns von sporadischen Treffen bei den einschlägigen Märkten, wo Söldner Gelegenheit bekamen ihrem Handwerk nach zu gehen. Zuvor hatte er bereits einen weiteren Kämpfer, einen jungen Menschen aus Brendranon, für die Sache gewinnen können. Auch an den Namen kann ich mich nicht entsinnen. Nennen wir ihn Bert.
Zu dritt würden wir ausziehen zum nördlichen Grenzgebirge und einen bestimmten Riesen, der mehrere malonische Magier angegriffen und ihre Wertsachen entwendet hatte, erschlagen. Was noch an magischen Artefakten bei ihm zu finden war, sollten wir zurückbringen und dafür eine fürstliche Belohnung kassieren.
Unter den geraubten Gegenständen befand sich unter anderem ein sagenhafter Bogen, was meine Aufmerksamkeit freilich sofort erregte.

Ich war geneigt, auch um meines Zehs willen, sofort zuzustimmen, aber zuvor musste ich eine entscheidende Frage stellen.
»Wenn der Riese so wichtiges Zeug von so wichtigen Magiern hat, warum ziehen die Zwerge nicht mit einer Abteilung ihrer Armee hin und töten das Vieh?«, hab ich gefragt.
»Der Riese hat seine Höhle auf der Seite des Gebirges, die nicht mehr zu Malon gehört. Das Ausrücken der Armee auf fremdes Land kommt in der aktuellen Lage einer Kriegserklärung gleich. Eine Handvoll Söldner ist unverfänglich.«
Die Erklärung war einleuchtend, auch dass die Zwerge lieber Fremde als Futter für den Riesen schickten als wertvolle Zwerge klang plausibel. Für mich galt hier also zurückhalten, überleben und möglicherweise mit einem Glückstreffer einen Riesen erlegen. Einen kleinen Vorschuss gab es auch, ich würde nicht sofort verhungern.

Am nächsten Morgen trafen wir uns für alle Vorbereitungen, eine Besprechung des Weges und die Abreise in Richtung Norden. Ich war zwar kein Bergsteiger, aber Bert war erfahren in diesem Bereich und würde uns führen. Die Reise bis zu den Ausläufern der Gebirge kostete uns gut acht Tage, weitere drei schlugen wir uns Schritt um Schritt in höhere Lagen. Als endlich der gesuchte Berg in Sicht kam, waren wir bereits vom Zurücklegen der Strecke ausgelaugt. Wir beschlossen daher einen vollen Tag zu rasten und nutzten die Zeit für ausgiebige und konkrete Pläne für den Kampf.

Keiner von uns hatte bisher gegen einen Riesen gekämpft. Wir wussten nicht genau wie groß das Wesen sein würde, alles zwischen zwanzig und einhundert Fuß erschien möglich, daher legten wir Manöver für verschiedene Szenarien mit verschieden großen Riesen aus.
Abib kämpfte gewöhnlich mit Skimitar und Schild, für diesen Einsatz hatte er sich allerdings einen Speer besorgt. Bert war den Kampf zu Pferd gewöhnt, konnte aber gut mit der Hellebarde umgehen, die er gegen den Riesen einzusetzen gedachte. Ich wollte natürlich meinen Bogen verwenden und hatte vor unserer Abreise durchschlagskräftige Pfeile besorgt, um die dicke Haut des Riesen zu durchdringen.
Ausgestattet mit einem Arsenal von Plänen, erklommen wir am folgenden Morgen den Berg bis zu der Höhle des Riesen.

Die Größe des Höhleneingangs machte Hoffnung, dass das Monster sich am unteren Ende unserer Skala befinden würde. Abib ging vor, dicht gefolgt von Bert, während ich mit eingenocktem Pfeil leicht zurück fiel. Dumpfe Geräusche drangen aus der dunklen Tiefe der Höhle empor und wir schlichen vorsichtig in ihre Richtung.
Abib hielt an einer Ecke und bedeutete mir, näher zu kommen. Wir schauten in einen großen, fast runden Raum, in dessen Mitte eine etwa fünfundzwanzig Fuß große Gestalt versuchte, etwas in einem Sack zu verstauen.
Bereit jederzeit loszuspringen, warteten Abib und Bert auf mein Zeichen, ein Pfeil direkt in den ungeschützten Rippenbogen des Ungetüms. Doch unmittelbar bevor ich loslassen wollte, wand sich der Riese zu uns um.
Mir blieb das Herz fast stehen, aber es ist nicht einfach einen gespannten Bogen zu halten – ich musste jetzt Schießen. Der Pfeil bohrte sich in die linke Handfläche des Riesen, der beide Hände zu einer beschwichtigenden Geste erhob und donnernd »Halt!«, rief.
Unschlüssig schauten sich Abib und Bert an, dann rannten sich schreiend los, die Waffen zum Angriff erhoben.
»Ich sagte halt!«, donnerte der Riese und wischte Bert mit einem Rückhandschlag fort. Abib konnte seinen Speer in die Leiste des Monsters bohren, allein ich war geneigt ihm zuzuhören.
Mühelos zerbrach das Ungeheuer den Speer mit seiner rechten Hand. »Ihr sollt zuhören, ihr Tölpel.«
Jetzt blieb auch Abib verdutzt stehen. Sein Griff ging zu seinem Skimitar, aber noch zog er die Waffe nicht.
»Du sprichst, Ungetüm?«
»Ja, ich spreche und ich bin nicht euer Feind.«
Das Grollen, das der Riese Stimme nannte, grub sich in meine Eingeweide. Mit einem Seitenblick konnte sich sehen, dass Bert sich noch bewegte, wenn auch schwerfällig. Ich schaltete mich in die Diskussion ein.
»Wer, glaubst Du, sind unsere Feinde?«
»Die dunklen Magier, die Zwerge aus Malon. Ich versuche so viele ihrer widerwärtigen Artefakte wie möglich aus dem Land zu schaffen, ihre unnatürlichen Praktiken müssen aufhören.«
Ich konnte mir so schnell keinen Reim darauf machen, aber zumindest zertrümmerte der Riese gerade nicht unsere Knochen. Bert war inzwischen aufgestanden.
»Und wem bringst Du die Artefakte?«, fragte Abib.
»Niemandem, ich zerstöre sie. Sie sind gegen die Natur, die Magie ist falsch. Schlecht. Verdorben.«
»Das sehen die Zwerge anders. Sie haben uns geschickt um ihre Sachen von Dir zurück zu holen.«
Der Riese lachte. »Ach, haben sie gedacht, drei kleine Menschlein würden mir gefährlich?«
»Vielleicht werden wir das, wenn Du nicht aufpasst.«, rief Abib.
In der Zwischenzeit war Bert mit seiner Hellebarde heran gekommen und hieb nun mit aller Kraft auf die Rückseite des Knies des Riesen. Das Monster schrie und warf sich herum.
Abib zögerte nicht, zog seinen Skimitar und rannte vor. Der Riese fiel zu Boden, nicht ohne dabei nach Bert zu schnappen. Die fleischige Hand zerdrückte den Brendraner mühelos.
Ich selbst setzte mit dem nächsten Pfeil an – wenn Abib unterliegen würde, könnte ich entkommen, wenn wir aber erfolgreich wären…
Abib war mir im Weg, seine Bewegung schnell und unkalkulierbar. Das half ihm ungemein dabei, nicht vom Riesen erfasst zu werden, machte mir gleichzeitig das Zielen unmöglich. Endlich, nach diversen Schnitten auf der dicken Haut des Ungeheuers, wurde Abib vom Riesen fort geschleudert. Ich nutzte die Gelegenheit und platzierte den Pfeil direkt in sein Auge. Die relativ kurze Distanz half und trieb den Pfeil offenbar weit genug hinein. Ein letztes Stöhnen – dann kippte das Monster leblos zur Seite.

Ich betrachtete die Beute, die mir der Riese hinterlassen hatte. Allerlei seltsame Gegenstände, die ich nicht zuordnen konnte. Dann sah ich diesen Bogen hier. Zunächst habe ich, erfolglos natürlich, versucht ihn einfach aufzunehmen.
Der Handschuh hat mich zu sich gerufen. Es war kein Ruf im eigentlichen Sinn, mehr ein Gefühl, eine Eingebung. Es ist dieser Handschuh hier und seit dem Augenblick in dieser Höhle, in dem ich dieses Stück Schattenstoff über zog, habe ich ihn nicht mehr abgelegt. Nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Er lässt mich nicht.
Der Handschuh hat ein Bewusstsein. Nicht wie ein Mensch, eher wie ein Tier. Es dürstet ihm nach Rache, nach Blut, nach Lebenskraft. Daher auch der Name: Rachehagel. Die Schattenessenz verbindet Handschuh und Bogen, gewährt meinen Pfeilen übernatürliche Durchschlagskraft und Reichweite. Auch brauche ich keine Pfeile zu ziehen – sie bilden sich sobald ich die Sehne zurückziehe.

Oh, natürlich, Abib. Der Schlag des Riesen hatte ihn nicht umgebracht, jedoch schwer verletzt. Ich beschloss, dass der Weg zurück mit einem Verletzten zu gefährlich würde und mehr Belohnung für mich abfiel, wenn ich nicht mit ihm teilte. Unter dem neuerlichen Einfluss von Rachehagel, schoss ich einen Pfeil direkt in sein Herz und konnte spüren, wie sich der Schatten über die Opfergabe freute.

Die Zwerge entlohnten mich tatsächlich wie vereinbart, und schienen mit dem guten Duzend magischer Gegenstände, das ich aus dem Gebirge geholt hatte, ganz zufrieden zu sein. Sie müssen den Handschuh gesehen haben, warum sie ihn mir überlassen haben, ist mir ein Rätsel. Ich nutzte das Gold das sie mir gaben um mich mit meinem neuen Bogen zurück in meine Heimat abzusetzen.
Wenige Jahre später wurde Malon dem Erdboden gleich gemacht. Es könnte sein, dass Rachehagel hier das letzte verbliebene Artefakt der dunklen Zauberer von dort ist.

Du fragst Dich, wieso Lucius einem wie mir vertraut, was? Das ich Rachehagel in meinen Besitz übernommen habe ist ewig her. War es bereits damals, als Lucius mich ansprach. Ich habe mich seit diesen Tagen gewandelt, habe gelernt mit dieser Bürde, diesem Segen umzugehen und er wusste das. Aber ich hadere nicht mit der Vergangenheit, sondern lerne aus meinen Fehlern. Ich glaube, unser Decurio weiß das zu schätzen. Und für die ganze Geschichte meines verkorksten Lebens genügt weder diese Nacht noch dieses Lagerfeuer, also musst Du mit dem Vorlieb nehmen, was ich Dir gegeben habe.