Gleichmut – Die Asche Legion Teil VIII

Gleichmut

Nun, mein junger Freund, die folgende Geschichte ist wahrlich eine Andere. Die Wege meiner Mitstreiter führten sie um die physische Welt, den einen weiter als den anderen, und auch mein Weg startete an einem Ort, der weit entfernt liegt. Darüber hinaus durfte ich jedoch eine Wandlung auf spiritueller Ebene machen, die bisher jedem von ihnen verwehrt geblieben ist.

Geboren wurde ich im Reich Kalifur, von dem Du womöglich noch niemals gehört hast. Das liegt zwar auch daran, dass dieses Land heute einen anderen Namen trägt, vor allem aber, beginnen die Grenzen so weit im Süden, dass man alle Wüsten hinter sich lässt und das Wetter erneut anfängt kalt zu werden. Für viele aus dem Kaiserreich ist es eine seltsame Vorstellung, verbinden sie doch den Süden mit Sonne und Wärme.
Kalifur in der damaligen Zeit wurde von einer strengen Königsfamilie regiert, Abgaben waren hoch, Strafen hart. Einzige Ausflucht für viele bot die Religion. Im Glauben fast aller Bewohner des Landes, war die Welt in der wir leben nur eine Zwischenwelt, eine Vorhölle in der sich entschied, ob man nach diesem Leben in die wahre Hölle oder das ewige Paradies kommt. Rigide Vorschriften und unbedingter Gehorsam, gehörten für sie alle zu einem würdigen Leben dazu.
Als mein Vater des Verrats an der königlichen Familie bezichtigt wurde, weil er beim Glücksspiel gegen einen entfernten Verwandten der Königin gewonnen hatte, entschied meine Mutter kurzerhand meine beiden Brüder und mich als Concorrent in den Tempel zu geben. Mein sechster Geburtstag lag nur wenige Wochen zurück.
Als Kind konnte ich die Zusammenhänge nicht verstehen, es erschien mir wie Verrat an mir, wie eine Bestrafung für etwas das ich nicht getan hatte. In Wahrheit rettete sie unsere Leben, denn bei Königsverrat wurden in Kalifur alle Familienmitglieder hingerichtet. Außer denen, die Gott dienten.

Mein älterer Bruder wurde direkt in die Ausbildung übergeben, während ich vier Jahre in einer fernen Tempelschule unterrichtet wurde. Später blieben meine Versuche, herauszufinden, was aus ihm geworden ist, erfolglos.
Die Jahre in der Schule ließen in mir vor allem Zweifel an der Wahrhaftigkeit des einen Gottes wachsen. Die Priester nannten ihn nur »Guter Gott«, ein Wesen absoluter Reinheit, von dem alles und jeder abstammen sollte. Obwohl ich nur zehn Jahre alt war, keimte in mir die Saat des Zweifels auf, blühte und wucherte, so dass ich in der folgenden Ausbildung zum Adepten eines Tempels in er Hauptstadt Yomashi kläglich scheiterte.
Wegen meiner fehlenden Gottesfürchtigkeit und meinem Unwillen den Anweisungen der Adepten und Priester Folge zu leisten, wurde ich aus der Ausbildung geworfen als ich zwölf Jahre alt war.

Ohne Eltern und ohne den Schutz des Ordens landete ich hart auf dem Pflaster der Straßen von Yomashi. Das Leben als Obdachloser, als Straßenkind war mir fremd, so dass ich nur wenig später beim Versuch einen Laib Brot zu stehlen, von der Stadtwache aufgegriffen wurde. Als minderjähriger Straftäter blieb mir das Zuchthaus erspart, dafür zahlte ich meinen Wunsch nach Essen mit zehn Peitschenhieben. Die Narben von eben diesen waren noch bis zum Tag des Feuers sichtbar.
Ich lernte einen anderen Straßenjungen kennen, Kilian, der mir etwas gegen meinen Hunger anbot. Dafür sollte ich ihm bei seinen Raubzügen helfen.
Gleich der erste Versuch, Kilian hatte mir die einfache und ungefährliche Aufgabe des Ablenkungsmanövers zugestanden, sollte sich mein Schicksal wenden.
Kilian hatte einen Fremden auf dem Markt ausgemacht, ein Mann in ungewöhnlicher Kleidung der die unterschiedlichsten Stände absuchte. Mein Auftrag bestand nun darin, den Mann frontal anzusprechen, während Kilian ihm von hinten den Geldbeutel herunter schneiden würde.
»Entschuldigt, Herr, habt ihr etwas zu essen für mich? Ich verhungere fast.«, ich log nicht einmal.
Der Mann beugte sich langsam vor und ich konnte Kilian hinter ihm sehen, der bereits den Beutel in der Hand hielt.
Doch dann schnellten die Hände des Fremden vor, eine Bewegung, schneller als alles was ich bis dahin gesehen hatte. Er ergriff mein Handgelenk und ebenso das von Kilian – obwohl er ihn nicht gesehen haben konnte. Mit eisernem Griff hielt er uns vor sich aufrecht.
»Eure Tat ist eine Schande. Doch was motiviert euch? Du, Beutelschneider, warum versuchst Du zu stehlen?«, wand er sich zunächst an Kilian.
»Ich bin ein Waisenkind, ich lebe auf der Straße und habe Hunger.«, flehte dieser.
Der Gesichtsausdruck des Fremden blieb hart. »Achtest Du den guten Gott?«
»Ja, ja, natürlich. Bitte, Herr.«, jammerte Kilian weiter.
Unvermittelt ließ er Kilians Handgelenk los. »Du sprichst die Wahrheit. Geh.«
Ohne zu zögern rannte Kilian fort. Ich sah ihn nie wieder.
»Was bringt Dich dazu mit ihm zu stehlen?«, die Augen des Fremden bohrten sich in meine Seele.
»Das gleiche! Ich bin eine Waise und habe Hunger und ehre den guten Gott!«
Aber er schüttelte den Kopf. »Du lügst. Sag die Wahrheit oder ich führe Dich vor die Stadtwache.«
Schreckliche Angst überkam mich. Der Gedanke an die Peitsche, das schmerzende Brennen an den Stellen, wo sie erst Tage zuvor meine Haut zerrissen hatte, ließen mich mein Leben vor dem Fremden heraussprudeln. Nur zum Schluss log ich erneut, aus Furcht wegen der ungewöhnlichen Frage nach dem guten Gott.
»Sie warfen mich aus dem Tempel, weil ich gestohlen hatte. Aber ich glaube noch immer an den guten Gott.«, behauptete ich.
Erneut schüttelte der Fremde seinen Kopf. »Du sagst zwar die Wahrheit über Familie und Deinen Weg in den Tempel. Doch noch immer glaubst Du mich wegen dem guten Gott belügen zu müssen. Eine letzte Chance, sprich wahr oder erfahre erneut die Peitsche.«
Ich zuckte zusammen. Woher konnte der Fremde, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, von meiner Strafe wissen? Ich senkte den Blick.
¬»Es stimmt. Sie warfen mich aus dem Tempel, weil ich nicht auf den guten Gott vertraue. Ich habe… Zweifel.«
»So zeigt es Dein Herz, Junge. Wie heißt Du?«, sein Tonfall wurde freundlicher, fast melodisch. Es war merkwürdig, weil er noch immer meinen Arm fest hielt.
»Meine Eltern gaben mir den Namen Tantalos, Herr. Lasst Ihr mich jetzt gehen?«
Sein Griff löste sich, aber er bedeutete mir mit der Hand noch zu warten.
»Du kannst zurück zu Deinem Freund oder…«, aus seinem ledernen Mantel holte er ein fremdartiges Emblem aus dunklem Holz hervor. Eine Hand mit gespreizten Fingern und einem tropfenförmigen Edelstein in der Handfläche war zu sehen. »Du kommst mit mir zum Orden des trauernden Landes.«

In Anbetracht der katastrophalen Umstände, unter denen ich auf der Straße leben musste, fiel die Entscheidung nicht sonderlich schwer. Bis dahin hatte ich noch nie von diesem Orden gehört, aber da der Fremde nun wusste, dass ich nicht wirklich an den guten Gott glaubte, und mich dennoch aufnehmen wollte, hatte ich ein gutes Gefühl bei meiner Wahl.
Ich ging also mit ihm. Er stellte sich als ›Barnabas‹ vor und wanderte mit mir aus der Stadt heraus. Als ich ihn beiläufig fragte, ob er denn nicht noch etwas vom Markt holen wollte, deutete er auf mich und sagte: »Und habe ich nicht etwas vom Markt geholt?«

Der Augenblick, als ich zu ersten Mal das Kloster des Ordens vom trauernden Land sah, bleibt unvergessen. Das Kloster befindet sich in einer Talsohle, umgeben von riesigen Bäumen. Die Mauern sind aus schwarzem Stein geschlagen, reich verziert mit Ornamenten aus hellem Holz und weißem Salzstein, der in der Sonne glitzert. Die Anlage findet man auf einer weiten Lichtung, umgeben von einer Vielzahl kleiner flacher Sandbecken übersäet mit Steinen von unterschiedlichster Farbe, Form und Größe. Die Sandgärten sind in einem verwirrenden Labyrinthmuster angelegt und erstrecken sich über einen Hektar Land. Während wir zum Gebäude wanderten, standen in einigen der Becken junge und alte Männer und Frauen in einfacher, aber gleichförmiger Tracht und schienen den Sand und die Steine zu ordnen und zu pflegen.

»Bevor Du unserem Orden beitreten kannst, musst Du eine fünfteilige Prüfung bestehen.«, erklärte Barnabas mir, nachdem wir in die große Vorhalle des Klosters getreten waren. »Die Prüfungen dienen dazu, Deine Wahrhaftigkeit auf die Probe zu stellen.«
Damals begriff ich nicht, was er meinte, doch allein um meines knurrenden Magens willen, wollte ich die Tests bestehen.
Barnabas führte mich in einen kleineren Nebenraum. Auf einem einfachen Stuhl vor einem kleinen, runden Tisch hieß er mich Platz nehmen.
»Gleich wird sich ein anderer Mönch unseres Ordens Dir gegenüber setzen. Er stellt Dir Fragen, die Du alle wahrheitsgemäß beantworten musst. Dir ist es nicht gestattet, Gegenfragen zu stellen, egal wie seltsam Dir vorkommt, was er von sich gibt. Beantwortest Du fünf Fragen ohne zu lügen oder ihn etwas zu fragen, hast Du die erste Prüfung bestanden.«
Ohne weitere Worte verließ er mich. Zunächst geschah Minutenlang nichts. Dann lugte ein kleiner Junge, vermutlich jünger als ich selbst, durch die Türe. »Ist es noch da?«, wisperte er.
»Nein, ich bin allein.«, antwortete ich unsicher. Der Junge schlich in den Raum und schloss die Tür. Seine Kleidung war der meinen nicht unähnlich.
»Heftige Typen hier, was? Hast Du Angst?«, fragte er beiläufig, während er die Wand des Raumes befühlte.
»Ein wenig.«, ich überlegte, ob der Junge mein Schicksal teilte oder der Prüfer sein konnte. Solange ich mir unsicher war, wollte ich bei kurzen, wahren Antworten bleiben.
»Ich kann die Geschichten vom guten Gott auch nicht glauben. Deswegen bist Du doch hier, oder?«
Ich legte den Kopf schief und beobachtete ihn genau. Er ließ derweil von der Wand ab und kam schmunzelnd auf den Tisch zu.
»So scheint es, aber sicher bin ich mir nicht.«
»Doch, doch. Sie suchen Zweifler. Warum glaubst Du nicht an den guten Gott?«, jetzt setzte er sich auf den Stuhl mir gegenüber, ganz beiläufig.
»Ob ich wirklich nicht an den guten Gott glaube, weiß ich nicht. Es gibt so viele Menschen, die seiner Lehre folgen. Aber, wie Du schon sagst, ich zweifle. Die Frage, wegen der ich am stärksten zweifle, lautet: ›Wenn der gute Gott doch allmächtig ist, warum geht es den Gläubigen dann nicht besser?‹«
Der Junge nickte. »Das ist eine gute Antwort, die merke ich mir. Und würdest Du lieber in einer Welt mit dem guten Gott leben oder in einer Welt beherrscht von reinem Wissen?«
Plötzlich war mir unwohl. Wenn das alles Teil der Prüfung war, wollten sie eine bestimmte Antwort? Sollte ich lügen um dem Orden zu gefallen? Ganz offenbar hatte der Orden etwas gegen den guten Gott. Der Gedanke verflog so schnell wie er gekommen war. Ich musste die Wahrheit sagen.
»Ich würde die Welt mit dem guten Gott vorziehen.«
Er lachte. »Würden wir doch alle, stimmt’s?«
»Jetzt habe ich eine Frage. Bist Du der Prüfer oder nur ein Junge wie ich?«
Ein verschlagenes Grinsen umspielte seine Lippen. »Barnabas hat Dir doch befohlen, keine Gegenfragen zu stellen. Jetzt bist Du durchgefallen.«
»Nein. Ich habe fünf Fragen wahrheitsgemäß beantwortet, wie es mir gesagt wurde.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich habe erst vier Fragen gestellt.«, dabei hielt er die Hand mit vier abgespreizten Fingern hoch.
»Deine erste Frage war, ob Barnabas noch hier wäre. Also sind es fünf gewesen!«, beharrte ich.
Die Tür schwang auf und ein älterer Mönch mit langem Bart kam herein. »Sehr gut, junger Tantalos. Es verbleiben noch vier Prüfungen. Folge mir.«
Als ich mich verwirrt erhob, murmelte der Junge. »Nichts für ungut.«, hinter mir her. Ich hatte alles richtig gemacht.

Auf dem Weg zur zweiten Prüfung, begann der Mann zu erzählen. »Man nennt mich Amigael, ich folge dem Pfad des trauernden Landes seit fünfundfünfzig Jahren. Du hast in der ersten Prüfung die wichtigste Eigenschaft, die für eine erfolgreiche Lehre bei uns notwendig sind, unter Beweis gestellt. Ehrlichkeit, auch und vor allem zu Dir selbst. Wir kommen jetzt zur zweiten Prüfung: Konzentration.«
Das Zimmer, in das er mich brachte, war voll mit Arbeitstischen, an denen bereits ein duzend Jungen und Mädchen saßen und arbeiteten. Sie schienen alle etwas zusammen zu setzen, kleine Holzstäbe und Scheiben lagen vor ihnen, einfache Zangen und ein Messer ebenfalls. Ihre Hände huschten nur so über die Platte und beeilten sich eine Art Rolle zu bauen. Amigael wies mir einen Platz ziemlich in der Mitte zu.
»Du hast eine halbe Stunde Zeit, um mir sieben Rollen zu bauen.«, dann stellte er mir eine fertige Rolle vor die Nase. »Zeig mir, wie Du die erste bauest, danach beginnt die Zeit.«
Die Handhabung der Stäbe war nicht besonders herausfordernd, aber da es wie eine Art Puzzle funktionierte, musste man sich beim Bau konzentrieren, damit es passte und nicht auseinander fällt. Für die erste Rolle musste ich zweimal neu beginnen. Als ich fertig war, sah ich zu Amigael und fragte: »Wie lange habe ich gebraucht?«
»Etwas mehr als zwölf Minuten.«, sagte er trocken.
Entmutigt sah ich zwischen ihm und meiner Holzrolle hin und her. »Dann schaffe ich niemals sieben Stück in einer halben Stunde.«
»Wenn Du Dich konzentrierst, und nicht mehrfach von vorne anfängst, kannst Du es schaffen. Konzentration. Deine Zeit läuft.«
Mit einer derart kurzen Vorgabe, begann ich sofort mit meiner nächsten Rolle. »Ich komme gleich wieder.«, hörte ich Amigael sagen.
Direkt nachdem er den Raum verlassen hatte, begannen die anderen Kinder im Raum durcheinander zu reden. »Du machst das falsch.«, »Hier, ich zeig Dir meine Methode!«, »Wo kommst Du her?«, »Soll ich Dir das mal halten?«
Die Anderen hatten so schnell gearbeitet, es schien verlockend mir von ihnen helfen zu lassen, aber ich erinnerte mich an die Aufgabe. Konzentration.
»Nein, Danke, ich mache das alleine.«, antwortete ich ihnen allen.
Sie redeten weiter auf mich ein, zunehmend fiel es mir schwerer die Stäbe richtig zu platzieren und die korrekte Reihenfolge zu behalten. »Hey, Du machst das voll gut. Zeigst Du mir, wie Du das machst?«, fragte ein Mädchen, das sich direkt vor mich stellte.
»Tut mir leid, erst, wenn ich sieben Stück fertig habe.«, gab ich zurück ohne meinen Blick vom Holz zu nehmen.
Das Mädchen ließ nicht locker. »Bitte! Bitte!«, flehte sie. Aber ich schüttelte nur den Kopf.
Trotz der anhaltenden Störungen, die ich bald einfach ignorierte, schaffte ich es mich zu konzentrieren und eine nach der anderen die Rollen fertig zu stellen. Als ich die fünfte zur Seite legte, begann die Angst, die Zeit könnte ablaufen. In dem kleinen Raum mit den brabbelnden Kindern, war mein Zeitgefühl völlig dahin. Aber Amigael kam nicht zurück, niemand unterbrach mich. Kurz bevor die siebte Rolle fertig war, spürte ich meinen Herzschlag anziehen. Schweiß trat mir aus den Poren, weil ich so kurz davor war, die Prüfung zu bestehen.
In dem Moment wo ich die siebte Rolle fertig zur Seite legte, wurden die anderen Still und begannen dann zu klatschen. Amigael kam herein. »Sehr gut, Tantalos.«
»Ich habe es geschafft?«, ungläubig sah ich zu ihm hoch.
»Ja, nur ganz knapp über einer Stunde. Wunderbar.« Er lächelte.
Meine Mundwinkel glitten herunter. »Dann habe ich versagt. Oder nicht?«

Amigael erklärte mir, dass nicht die benötigte Zeit, sondern die Fähigkeit sich zu konzentrieren, die Frage der Prüfung war. Dann führte er mich zum nächsten Raum. Erneut ein Zimmer mit einem kleinen Tisch und zwei Stühlen.
»Dies ist die Prüfung der Geduld. Setz Dich bitte dort hin und bleib sitzen, bis Barnabas kommt. Verstanden?«
Nickend setzte ich mich. Amigael verließ den Raum schloss die Tür hinter sich.

Ich blieb alleine nur mit meinen Gedanken. Nach einer ganzen Zeit, es mögen zwei oder drei Stunden gewesen sein, kam das junge Mädchen herein, das mich bei den Holzrollen so bedrängt hatte. Sie hatte einen Krug und eine Tasse dabei. »Hier, etwas Wasser.«, sie schüttete mir etwas in die Tasse und stellte den Krug beim Verlassen des Zimmers neben dem Eingang ab.
Sofort begriff ich, dass es Teil der Prüfung war. Würde ich schwach, zu durstig werden und aufstehen, hätte ich versagt. Also saß ich.
Irgendwann begann die Sonne am Horizont zu verschwinden. Als beinahe kein Licht mehr durch das Fenster fiel, öffnete sich die Tür und Barnabas trat herein. Sofort stürzte ich zum Krug und stillte meinen Durst. Barnabas lachte.
»Hervorragend. Ich bringe Dich zum Speiseraum und anschließend zu Deinem Nachtlager. Morgen kommen die letzten beiden Prüfungen.«, er grinste mich breit an. »Ich bin sicher, dass Du auch diese bestehst.«

Sie gaben mir zu essen, zu trinken, und auch wenn ich noch immer nicht genau verstand, was vor mir lag, hatte mich der Ehrgeiz gepackt. In dieser Nacht schlief ich so gut, wie seit einer Ewigkeit nicht mehr und freute mich fast auf die nächsten Prüfungen.

Für die vierte Prüfung brachte mich Barnabas am nächsten Morgen zu einem Platz neben dem Kloster, auf dem eine Ziege angekettet war.
»Deine Aufgabe ist es, die Ziege mit einem Stein zu treffen. Und zwar zehnmal in Folge.«
Verwirrt und unsicher schaute ich zwischen ihm und der Ziege hin und her.
»Wieso?«
Mit missbilligendem Blick schaute Barnabas zu mir herab. »Weil das der Test ist, deswegen.«
»Das macht keinen Sinn. Sonst habt ihr jedes Mal gesagt, worum es bei der Prüfung geht. Wozu soll das dienen, wenn ich das hilflose Tier bewerfe?«
Barnabas hob einen Stein auf und hielt ihn mir hin. »Tu es einfach.«
Aber ich schüttelte den Kopf. »Ich will nicht. Das ist doch sinnlos.«
»Dann bestehst Du die Prüfung nicht.«, mit enttäuschtem Gesichtsausdruck schüttelte er langsam den Kopf.
Grübelnd blickte ich auf den Stein, den Barnabas noch immer hielt. »Ihr müsst mir sagen, warum. Sonst werde ich es nicht tun.«
»Du würdest Deine Chance aufgeben, hier zu bleiben und im Kloster zu studieren, nur weil Du die Ziege nicht bewerfen willst?«
Ich ergriff den Stein und warf ihn zwischen die nahen Bäume. »Woher soll ich wissen, ob ich überhaupt hier bleiben will? Ihr macht komische Prüfungen und wollt, dass ich Tiere quäle und verratet mir nichts, gar nichts darüber, was ihr eigentlich tut oder was ich hier soll. Ich kann mir nicht vorstellen, was ihr von mir erwartet, aber ich bewerfe keine Tiere, solange ihr mir nicht erklärt, was das beweisen soll.«, platzte ich heraus.
Mit einem Mal lächelte der Mann. »Sehr gut. Du hast die Prüfung bestanden. Denke immer daran, Du musst hinterfragen was auch immer Dir jemand im Orden sagt oder erklärt. Alles andere werde ich Dir erklären, wenn Du die fünfte Prüfung bestanden hast.«

Über die letzte Prüfung darf ich nicht sprechen. Ich habe geschworen kein Wort über diese Prüfung zu verlieren, es sei denn, Jemand hat die ersten vier Prüfungen bestanden. Mein Schwur mag bereits mehr als Viertel Jahrtausend zurück liegen, aber ich halte mich daran. Offensichtlich habe ich auch diese Prüfung bestanden.

Die folgenden acht Jahre verbrachte ich im Kloster vom Orden des trauernden Landes. Das Leben im Kloster war nicht nur vom Lernen der Lehren des Ordens geprägt, sondern auch von langen Stunden der Selbstreflexion. Es fiel mir bedeutend leichter als vielen anderen Schülern mein inneres Ich zu ergründen, so dass ich den Treueschwur bereits nach drei Jahren leisten durfte.

Nach der Weihe zum Mönch wandelte sich der Tagesablauf. Zu meinen Aufgaben gehörte es, die Aspiranten zu Schulen, Prüfungen vorzubereiten und die Meister bei der Durchführung zu unterstützen. Zudem erhielt ich nun Training in der waffenlosen Kampfkunst, die den Orden über die Grenzen Kalifurs hinaus bekannt gemacht hatte. Vor allem aber durfte ich nun nach Herzenslust die Steingärten nutzen.
Es ist schwierig jemandem, der nicht in sich ruht, zu vermitteln, was ich dort fand. Meine Kameraden hier belächeln mich stets, wenn ich von der Vollkommenheit des Sandes spreche. Einmal habe ich vier volle Tage und Nächte die gleichen Steine betrachtet und den Sand um sie herum neu geordnet. Die tiefen Einsichten die ich in diesen Gärten fand, brachten mein Verständnis für das Universum auf eine völlig neue Stufe.

Vor allem in den regelmäßigen Diskussionsrunden, denen Mönche und Meister beiwohnen durften, fiel ich sehr bald mit meiner ungewöhnlichen Weitsicht und tiefen Einsicht in die Welt auf. Als ich zwanzig Jahre alt wurde, entschieden die Meister, dass ich bereit für die Reise sei.
Die Reise ist im Orden des trauernden Landes der letzte Schritt zur vollständigen Erleuchtung. Viele Mönche werden niemals in ihrem Leben bereit dafür sein, andere brauchen zehn oder zwanzig Jahre Ausbildung und Kontemplation bis sie dieses Stadium erklimmen. An dem Tag, an dem ich das Kloster verließ, war ich der jüngste Mönch, der jemals auf die Reise ging.

Die Reise führte mich zunächst quer durch Kalifur, dann über die Grenzen des Landes hinaus und schließlich durch die großen Wüsten, bis ich zum Kaiserreich kam.
Bis ich meinen Fuß zum ersten Mal in dieses Land setzte, waren elf Jahre vergangen. Eine Zeit, die ich mit der Verfeinerung meiner Kampffähigkeiten und vielen, vielen Stunden der Meditation verbracht hatte. Die Erleuchtung blieb jedoch aus.
Auf der Reise konnte ich verschiedenste Formen der Spiritualität kennen lernen. Ich habe mit Weisen und Toren gesprochen, habe mit Bauern gespeist und von Fürsten gelernt, aber erst Lucius hat mich wirklich erkennen lassen. Warum er? Nicht er selbst, die Idee, die er vertrat, die Art wie er sie trifft und worauf seine Entscheidungen fußen, der Zusammenhang zwischen dem Wirken des Individuums und dem Wohl eines Volkes – diese Dinge haben in mir den letzten Schritt vollbracht. Natürlich nicht über Nacht. Eingangs wollte ich mich ihm nur für einige Monate anschließen. Lernen was zu lernen war, und dann meine Reise fortsetzen. Doch nur Wochen nach unserer ersten Begegnung habe ich die Erleuchtung erfahren. Meine Reise ist damit beendet, doch durch dieses Erlebnis wurde mir klar, dass mein Weg nicht zurück zum Kloster führt. Ich verschrieb mein weiteres Leben Lucius und dem Kaiserreich, in der festen Überzeugung, an seiner Seite das Beste für den kosmischen Fluss und das Universum als Ganzes bewirken zu können.

Meine Kameraden sehen meine innere Gelassenheit als etwas absonderliches, sie sehen unseren Zustand als Fluch. Ich hingegen sehe einen Segen, da wir für alle Zeiten Gutes tun können. Und obwohl ich weiß, dass eine übernatürliche Wesenheit, die wir den Gott des Feuers nennen, uns diese
Ehre hat zuteilwerden lassen, und obwohl mir klar ist, dass wir im Namen eines Kaisers handeln, weiß ich schon längst, dass weder Götter noch Kaiser unseren Weg bestimmen, sondern die Taten des Einzelnen das Angesicht unserer Welt verändern.