Der jüngere Bruder – Die Asche Legion Teil X

Der jüngere Bruder

Lex hat also mal wieder nur über sich gesprochen? Sieht ihm ähnlich. Egal, jetzt bin ich dran, und im Gegensatz zu ihm, weiß ich was sich gehört. Also reden wir darüber, wie wir zu Brüdern wurden.

Damals war ich dreiundzwanzig Jahre alt, also war Lex vierundzwanzig, und ich hielt mich bereits für einen ziemlich großen Helden. Meine Heimat hatte ich seit sechs Jahren nicht mehr gesehen und meine Dienste als Kundschafter wurden von Adligen und Offiziellen aus allen Ecken des Kaiserreiches angefordert.
Ein Graf aus Eos war es in diesem Winter.

Niemals werde ich vergessen, wie überrascht ich war, als ich in die große Halle der kleinen Burg dieses Grafens trat, und dort bereits zwei weitere Söldner warteten. Beide Männer waren mir unbekannt, aber ganz offensichtlich Waldläufer wie ich.
Der eine, ein kleiner, fast schmächtiger Kerl mit brauner Haut und langen schwarzen Haaren, trug einen Langbogen auf dem Rücken und eine Kopesh als Waffe an seiner Seite. Offenbar ein Mann aus dem Süden.
Der andere hatte meine Statur und auch mein Alter, und wie ich verwendete er Speer und Schild als Hauptwaffen und einen Kurzbogen daneben. Lex und ich sahen uns zwar nicht wirklich ähnlich – er ließ sich einen Bart stehen und das Haupthaar kurz, seine Nase war breiter und sein Kinn schmaler als meines – und trotzdem glichen wir einander wie Brüder, im Vergleich zum Dritten im Raum.

»Noch einer? Wie viele Kundschafter hat dieser Kerl angeheuert?«, brüllte Lex ungehalten.
Auch der kleine Kerl schüttelte den Kopf. »Der hält mich wohl für einen Amateur. Was soll ich mit zwei Klötzen an den Beinen?«
»Ihr könnt gerne gehen, dann mach ich was-auch-immer eben allein. Gibt sicherlich mehr Gold für mich«, rief ich ihnen zu, während ich mich langsam der Tafel näherte.
»Hättest Du wohl gerne«, tönte mir Lex entgegen.
In dem Moment als ich mich setzen wollte, ging eine Seitentür auf und ein junger Bursche in aufwändiger, reich verzierter Kleidung kam herein. Sein Gang strahlte Herrschaftlichkeit aus, doch sein Gesichtsausdruck strafte diese Eleganz lügen.

»Seid gegrüßt, werte Herren … ich bin Prinz Irgendwer von Irgendwo, Sohn des Soundso zu Haste-nicht-gesehen und Weißte-Schon, Beschützer des Sonst-was und der Keine-Ahnung.«
Offenbar hatte der kleine seine vielen Namen gut auswendig gelernt. Was er genau gesagt hat, weiß ich wirklich nicht mehr.
»Es freut mich, dass … ähm … ihr meinem Aufruf gefolgt seid. Mein Graf … mein verehrter Vater ist … ähm … etwas hat ihn verändert. Er ist in den letzten Monaten seltsam gewesen, hat sich oft nachts am Waldrand herumgetrieben, immer mehr seiner Pflichten hat er unzureichend erfüllt. Vor einer Woche … er ist einfach in den Wald gegangen und kam nicht wieder heraus. Ihr … ihr müsst ihn finden, verstanden? Und ihn zurückbringen.«

Wir drei Männer sahen erst den jungen Prinz, dann uns gegenseitig an. Lex sprach als erster:
»Habt ihr uns alle drei angeheuert, weil euer Vater abgehauen ist? Meint ihr nicht, ein Kundschafter hätte genügt?«
Etwas verlegen schüttelte der Prinz den Kopf. »Nein, ich will kein Risiko eingehen. Wir brauchen … ich brauche meinen Vater.«
»Solange wir alle bezahlt werden, sei es so«, erklärte der Bogenschütze.
»Na … natürlich.«, stammelte unser junger Auftraggeber. »Jeder wird seinen Teil erhalten.«

Das genügte uns. Wir ließen uns eine genaue Beschreibung des Grafen und seiner Kleider geben, und uns dann zur Stelle am Waldrand führen, in der er verschwunden war.
Wir übertrafen uns gegenseitig beim Finden und Folgen der Fährte des Barons, mussten eine Nacht im Wald verbringen und legten mehr als einen Tagesmarsch zurück, bis wir endlich näher kamen.

»Hier muss er sich länger aufgehalten haben«, erklärte ich, während ich mir die Spuren besah, die wir am Rande einer kleinen Lichtung mit mehreren Findlingen darauf gefunden hatten.
Der Bogenschütze meldete sich zu Wort: »Kann ich bestätigen, er war vor wenigen Stunden hier.«
»Hier sind aber noch andere Spuren«, fügte Lex hinzu. »Sieht aus wie ein … Rind oder sowas.«
»Nein, so ein Unfug«, der Bogenschütze betrachtete die gleiche Fährte. »Das muss von einer Ziege sein. Eine riesige Ziege.«
»Das sind Spuren von Caprian«, erleuchtete ich meine überforderten Begleiter.
»Das Ziegenvolk? Ich dachte, die bleiben auf ihren Inseln«, nachdenklich strich sich Lex übers Kinn.
Der Bogenschütze betrachtete weitere Spuren. »Habe ich auch geglaubt, aber hier sind einige Spuren, die passen wirklich zu den Caprian. Wie weit sind wir noch vom Meer entfernt? Zwei, drei Tagesreisen?«

Wir kamen zusammen, die großen Felsen spendeten uns Schatten. Während wir überlegte, wie wir mit der Entdeckung des Ziegenvolkes umgehen wollten, hörte ich plötzlich ein lautes Knacken aus einiger Entfernung.
»Was war das?«
Lex legte den Kopf schief. »Hab’s auch gehört. Dort hinten irgendwo.«
Unser dritter Freund, sah etwas verwirrt aus, doch das nächste Bersten von Holz konnte auch er nicht überhören. Wir gingen in Stellung, denn die Geräusche kamen näher. Etwas Großes näherte sich uns.
Der Lärm wurde lauter, bis schließlich ein riesiger, nackter Mensch durch die Bäume brach und auf uns zu rannte.
Sofort schoss der Bogenschütze einen Pfeil ab, der wirkungslos im Brustkorb des Riesen stecken blieb, während Lex und ich mit den Speeren bereitstanden. Das Geschöpf war eigentlich kein Riese, die Riesen haben völlig andere Proportionen, kleinere Köpfe, längere Arme. Es sah dagegen aus wie ein zwanzig Fuß großer Mann. Inzwischen wissen wir, dass er krank war, ein Magieverfluchter, aber damals hielten wir ihn für eine Missgeburt. Zu der Zeit kannte niemand Magieverfluchte.
Und deinem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass du sie auch nicht kennst.

Unser guter Baltazar hat es mir so erklärt: Diejenigen, die zwar großes magisches Potenzial besitzen, aber keine vernünftige Ausbildung erhalten, laufen Gefahr unbewusst zu viel Magie zu sammeln. Die Energie kann dann zu einer Art Besessenheit oder Krankheit führen, die den Magieverfluchten dann innerhalb weniger Tage umbringt. Bis zu seinem Tod ist der Kranke eine unkontrollierbare, riesenhafte Bestie, mit unstillbarer Gier nach mehr Magie.

Und dieses Schicksal hatte den Graf getroffen.

Lex und ich versuchten ihn mit den Speeren auf Abstand zu halten, unsere Bewegungen liefen von Anfang an fast synchron. Ohne große Abstimmung, waren wir sofort ein Team. Natürlich nicht so effektiv wie heute, aber für Fremde? Es war herrlich. Abwechselnd stießen wir zu, hielten den Riesen erfolgreich zurück.
Doch dann griff er einfach in die Spitzen. Die Schmerzen schienen ihm egal zu sein, er rammte sich selbst die Speere in die Hände und riss sie aus den unseren.
Wir gingen auf Abstand und zogen unsere Kurzbögen. Gleichzeitig ließ sich unser Bogenschütze viel Zeit um genau zu zielen. Der verfluchte Graf zog sich umständlich die Speere aus den Händen, als sein Pfeil zielgenau das rechte Auge traf.
Anders als bei der Brust, erzielte er hier Wirkung. Das Monster heulte auf und hielt sich mit der rechten Hand das blutende Gesicht. In seiner Linken steckte noch immer mein Speer.
Während wir unsere Bögen spannten, sprang das Ungetüm vor und packte den völlig überraschten Bogenschützen. Seine schreckerfüllten Schreie werde ich nie vergessen.
Die Knochen brachen und knackten laut, bereits in dem Augenblick als die riesige Hand sich schloss. Dann mussten wir hilflos mit ansehen, wie der Graf dem schreienden Mann aus dem Süden in den Kopf biss. Unsere Pfeile blieben dagegen wirkungslos in seiner Haut stecken. Wir hatten keine Chance.

Hätten wir selbst heute nicht.
Plötzlich kamen uns jedoch die Ziegen zu Hilfe. Aufgeregt blökend rannten ein Duzend Caprian um uns und den Riesen herum. Während ein paar uns bedeuteten die Bögen zu senken, hoben die anderen ihre Hände in Richtung des Grafen und fingen eine Art Gesang an.
Die merkwürdige Zeremonie beruhigte den Riesen innerhalb weniger Augenblicke. Auch schrumpfte er, verwandelte sich erkennbar in den Grafen, den wir suchten.

Baltazar fluchte, als ich ihm die Geschichte zum ersten Mal erzählt habe. Er wollte genau wissen, was für ein Ritual das gewesen sei, wollte die Caprian aufsuchen um es zu verstehen. Wie es scheint hat dieses unscheinbare Naturvolk einen Zugang zur Magie, der über das Verständnis von Trollen und Menschen hinausgeht.

Sie haben uns erklärt, dass es noch dauern wird, bis der Graf von seiner Krankheit geheilt sei, vermutlich Jahre, und sie würden eine aufwändige Heilungszeremonie mit ihm durchführen, jeden Tag bis er geheilt sei. Der Frage, warum sie dies täten, sind sie ausgewichen. Ihrer Aussage nach, hatte die Präsenz unserer magischen Waffen ihren Schutzkreis gestört und den Fluch hervortreten lassen.

Uns blieb nichts, als den Wald mit leeren Händen zu verlassen. Nun, fast leer. Die Caprian gaben uns eine Kette des Grafen mit, als Beweis, dass wir erfolgreich gewesen waren. Sie baten uns zu berichten, wir hätten einen Bären gefunden und aus seinem Bauch die Kette geholt, damit niemand wieder so tief in den Wald vordringen würde.

Wir taten wie geheißen, kassierten vom weinenden Prinzen unsere Anteile und verließen die verfluchte Grafschaft. Gemeinsam.