Kurzgeschichte: Stein und Verrat

Heute etwas anderes – ein Kurzkrimi aus meiner Feder:

»So sollen diese Touristen sie gefunden haben?«, Kriminaloberkommisar Hobb sah zweifelnd zu dem jungen Kollegen der örtlichen Polizei, der sie zu der einsamen Stelle im Wald geführt hatte.
»Ähm, ja«, hektisch blätterte der Mann in seinem Notizbuch, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. »Gegen zehn Uhr dreißig heut’ früh. Drei Wanderer aus Rostock, sie sind in unserer Dienststelle. Wollen … wollen Sie ihnen Fragen stellen?«
Hobb drehte sich zu Kriminalkommissar Bröxkes herum, der in der Zwischenzeit um die Steinformation herum gegangen war. Abwesend antwortete er dem Streifenpolizisten. »Vermutlich, ja. Aber erst einmal sehen wir uns hier um. Brauchen wir Forensik, Oliver?«, der letzte Satz ging an seinen Partner.
Anstatt einer Antwort winkte der so Angesprochene ihn zu sich. Mit vorsichtigen Schritten kam Hobb näher heran, der Geruch getrockneten Blutes stieg ihm in die Nase.
»Sieh mal, Christian, das Handtuch auf ihrem Gesicht. Kaum Blut, aber eine Menge Blut an ihrem Hals. Das Tuch wurde erst Stunden nach dem Tod aufgelegt. Die Touristen?«
»Oder unser Freund dort«, Christian Hobb wies mit seinem Daumen über die Schulter. »In der Gegend kennt jeder jeden. Ist das ein Brief da an der Kette?«
»Ein Zettel, ja. Die Frau wurde wahrscheinlich hier getötet und dann so drapiert. Mit den Armen in Jesuspose um den Wildweibchenstein gefesselt«, erklärte Oliver Bröxkes.
»Den was?«
Oliver stand auf und ging gestikulierend um die Steine herum. »Diese Steine werden Wildweibchenstein genannt, früher sollen hier Kräuterhexen gewohnt haben.«
Dann zog er seine Untersuchungshandschuhe an.
Vorsichtig zog Oliver das Handtuch vom Gesicht der Frauenleiche. Als Christian sie sah, weiteten sich seine Augen. »Der Frau wurde die Halsschlagader durchgeschnitten«, berichtete Oliver nüchtern. »Und dem Blut am Kinn nach zu urteilen, wurde sie im Mund verletzt, möglicherweise die Zunge herausgeschnitten oder Vergleichbares.«
Als Christian nicht reagierte, sah Oliver sich fragend um. »Anderer Meinung?«
»Ähm, nein, nein. Was … was steht denn auf dem Zettel?«, demonstrativ nachdenklich fasste sich Christian ans Kinn. Oliver hob die linke Braue, wand sich dann wieder dem Leichnam zu. Vorsichtig entfernte er den blutverschmierten Zettel von der Kette um den Hals der Frau.
»Hier steht: ›Wenn die Bauern wüssten, zu was die wilden weißen Haiden und die wilden weißen Selben gut sind, dann könnten sie mit silbernen Karsten hacken. Fürchtet den Schnellertsherr.‹«
Mit einem verächtlichen Schnaufen drehte sich Christian um und schaute den Weg zurück den sie gekommen waren. »Mieser Dichter, der Täter.«
»Das ist kein Gedicht«, korrigierte Oliver. »Der Mythos von den Kräuterweibern besagt, dass sie diesen Spruch jenen Einwohnern von Laudenau zugeflüstert haben, die freundlich zu ihnen waren. Außer das vom Schnellertsherr. Seltsam.«
Christian sah seinen Partner ungläubig an. »Den kennst du wohl auch, den Herrn Schnellerts?«
Im Aufstehen wand sich Oliver nach Nordosten. »Eine Sage um die Burgruine Rodenstein, gleich dort oben. Der oder die Täter haben sich große Mühe mit der Präsentation gemacht, sind ein großes Risiko eingegangen mit dem Hinterlassen einer handschriftlichen Notiz«, sorgfältig ließ Oliver den Zettel in eine kleine Plastiktüte gleiten.
Besorgt sah er zu Christian. »Möglich, dass es in der Ruine weitere Opfer gibt.«
»Was ist das für eine Sage?«, Christian zündete sich eine Zigarette an.
»Im Wald wird nicht geraucht, Kommissar Hobb«, Oliver zog sich die Handschuhe aus und ergriff den Glimmstängel. »Der Schnellertsherr ist ein Geist der bei einem drohenden Krieg mit seinem Heer von der Burg Schnellerts über Fränkisch-Crumbach zur Burg Rodenstein fliegt um die Bewohner des Odenwaldes zu warnen. Andere Quellen sagen, der Geist verführt Studenten zum Saufen.«
Verärgert murrte Christian. »Sollen wir jetzt in dieser Ruine nachsehen, Herr Lexikon?«

Die Beiden traten aus östlicher Richtung durch den alten Torbogen in den Innenhof der Burg Rodenstein, gerade als es zu dämmern begann. Ein Fleck am Boden erregte Olivers Aufmerksamkeit. »Schau hier, Blut.«
Mit einer unzufriedenen Grimasse nickte Christian ihm zu. »Hattest also Recht, bist du glücklich?«
Dann sah er sich um, begutachtete die brüchigen Mauern und zerfallenen Gebäude. »Warum hat er wohl diesen Ort gewählt um sein Opfer zu verstecken?«
»Der oder die Täter verstecken ganz offensichtlich niemanden«, entgegnete Oliver kopfschüttelnd. »Sie wollen Aufmerksamkeit, ein Zeichen setzen vielleicht. Könnte sich auch um ein Ablenkungsmanöver handeln. Es ist noch zu früh um Schlüsse zu ziehen.«
Vorsichtig folgten sie der Blutspur, vorbei an rissigen Wänden und moosbewachsenen Steinen die einst eine Burg bildeten. Die Flecken führten sie zum alten Mühlturm auf der Westseite der Ruine. Eine Brise wehte ihnen einen unangenehmen Geruch aus dieser Richtung entgegen.
»Hier ist definitiv etwas, ich benachrichtige unsere Kollegen«, Oliver zog sein Diensthandy aus der Tasche, während Christian Schritt um Schritt weiter auf den Turm zuging.
Als er den Blick in das alte Gemäuer werfen konnte, entfuhr ihm ein erleichterter Seufzer. Sekunden später sah auch sein Kollege ihm über die Schulter.
Vom obersten Stock des verfallenen Turmes baumelte ein Männerkörper an einem Strick. »Das zweite Opfer. Hoffentlich werden es nicht noch mehr«, sinnierte Oliver.
Christian räusperte sich. »Also, für mich sieht das nach einem Mord-Selbstmord-Plan aus. Der Mann hat erst die Frau getötet und sich anschließend hier erhängt.«
Ungläubig sah Oliver seinen langjährigen Partner an. »Was redest du da?«, dann blickte er den Turm hinauf. »Das soll der Mann alleine gemacht habe? Wie kommst du so rasch auf so eine Schlussfolgerung?«
»Nun, sieh mal«, Christian zeigte zurück auf den Weg den sie gekommen waren. »Da ist Blut, aber unter ihm ist keine Lache. Vermutlich ist das Blut von der Frau. Außerdem hätte ein Täter ihn dort hochziehen müssen, während er einfach hochkraxeln konnte, um dann herunter zu springen.«
»Nein, das ergibt keinen Sinn. Wozu dann der kryptische Spruch, wozu die geschichtsträchtige Stelle? Aber das lässt sich leicht herausfinden. Wir klettern da hoch und sehen es uns genauer an.« Schon machte sich Oliver auf den Weg, die maroden Reste einer Treppe empor zu steigen.
»Hey, warte Mal, da steht ›Betreten verboten‹ auf dem Schild. Sieht auch gefährlich aus«, fuhr Christian ihn an. Für einen Augenblick zögerte er, seufzte dann und folgte seinem Partner. Sie kletterten vorsichtig über rutschige Steine, bis sie auf den wenigen Überresten des einstigen Daches ankamen.
»Auf jeden Fall eine herrliche Aussicht, nicht wahr. Da hat sich der beschwerliche Aufstieg glatt gelohnt«, witzelte Christian schnaufend und ließ den Blick kurz schweifen.
Oliver deutete dagegen nach unten. »Siehst du hier, das Seil geht an der Außenseite herunter. Der oder die Täter haben ihr Opfer offensichtlich betäubt, ihm die Schlinge um den Hals gelegt und ihn dann empor gezogen. Muss ein kräftiger Mensch gewesen sein, wenn er alleine gewesen ist.«
Christian ließ die Schultern sinken. »Ja, das ist er. Ich weiß wer das getan hat.«
»Was?«
»Die Frau ist … war meine Schwägerin.«, mit gesenktem Blick und brüchiger Stimme sprach Christian weiter. »Mein Bruder hatte seit einiger Zeit den Verdacht, sie könnte ihm Fremdgehen. Er hat gedroht sie umzubringen, wenn er sie erwischt.«
»Dein Bruder also … tut mir leid.«
Plötzlich packte Christian seinen Partner bei den Schultern. »Nein! Wir können … wenn wir das Seil hier oben festbinden, wenn wir es so gefunden hätten, dann wäre es ein Selbstmord«, flehte er.
»Mach dich nicht lächerlich. Wir können keinen Doppelmord vertuschen«, raunte Oliver zurück.
»Es ist nicht einmal sicher, dass er es war. Dieser mystische Kram passt nicht zu ihm. Und wozu diese Inszenierung? Es wäre viel einfacher für alle, wenn es Selbstmord war«, Christians Stimme wurde fast weinerlich, aber er klammerte sich weiterhin an Olivers Schultern.
»Wenn du mir nicht hilfst, dann …« Kurz schüttelte er ihn.
Olivers Augen weiteten sich. »Was dann?«
»Zwing mich nicht dazu. Oliver, zwing mich nicht dazu.«
»Du kannst doch nicht …«, aus den Augenwinkeln konnte Oliver sehen, dass die Verstärkung eintraf. Mehrere Uniformierte kamen in den Innenhof, einer zeigte zu ihnen hoch.
»Mach’s gut«, raunte er mit bösem Lächeln. Christian sah ihn verwirrt an. Dann verlagerte Oliver sein Gewicht, ließ sich etwas nach hinten fallen. Geschockt hielt Christian an seinen Schultern fest. Oliver drehte sich, hielt seinen Fuß in den Weg und zog geschickt an Christians Arm.
Und Christian fiel.
Er schlug mit dem Kopf voran auf den Felsen tief unter dem alten Turm auf und blieb reglos liegen.
Sofort holte Oliver sein Diensthandy hervor und wählte den Notruf. »Hallo? Bröxkes, Kripo Darmstadt. Ich befinde mich auf der alten Burg Rodenstein. Mein Partner ist verunglückt.«
Zeitgleich schrieb er eine Nachricht von seinem anderen Handy.
›Es hat geklappt, dein Mann ist tot. Die Lebensversicherung gehört uns.‹

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