Fortsetzungsnovelle Stimmen: Monat 5 – Zur langen Erle

Wie üblich habt ihr zwei Wochen Zeit eure Entscheidung zu treffen. Diesmal stehen drei Wege zur Auswahl!


»Das ist Julia, sie arbeitet in der Küche«, stellte Björn die große, dunkelhaarige Frau vor, die Sam ihre Hand hinhielt. »Sie arbeitet schon eine Ewigkeit hier.«
Halbherzig die Mundwinkel hochziehend, schüttelte Sam ihre Hand. Die Frau war fast genauso groß wie er und hatte eine übergroße Raubvogelnase. Ihr schüchternes Lächeln entblößte krumme, gelbe Zähne.
»Julia macht tolle Touloumba«, fuhr Björn fort.
»Bulgarische Spezialität«, erklärte Julia, als sie Sams verwirrten Blick sah.
Sie standen am Eingangstor und warteten auf ihren letzten Begleiter. Sam hatte sich schon lange vor fünf hier eingefunden. Zwar konnte er gut auf Björn verzichten, und auch seine Vorfreude auf die anderen Kollegen war gering, aber die Chance in der Dorfkneipe auf einen Spielautomaten treffen zu können, belebte Sam. Er wäre schon vorgelaufen, nur hätte er weder gewusst, wie er die Kneipe finden würde, noch wie er das seinen Kollegen hätte erklären sollen. Daher geduldete er sich.
»Musst du pinkeln?«, fragte Björn. »Du hüpfst ja von einem Bein aufs andere.«
Sam blieb abrupt stehen und schaute auf seine Füße. Es war ihm nicht aufgefallen. »Mir wird nur langweilig.«
»Keine Sorge, Sascha kommt bestimmt gleich. Du kannst ja was erzählen. Du kommst aus Deutschland, woher genau?«
»Berlin.«
»Und?«, bohrte Björn weiter.
»Und was?«
Björn lachte aus vollem Hals. Es kam Sam vor, als würden die Berge ein Echo daraus machen, aber um sie herum waren eigentlich zu viele Bäume dafür. »Naja, und wie ist es so in Berlin? Erzähl mal, warum bist du weg?«
»Meine Freundin hat mich verlassen, wegen einem anderen.«
»Oh, du armer«, flüsterte Julia. Sie warf einen mitleidigen Blick zu ihm herüber. »Ein Sprichwort aus meiner Heimat sagt, solang du das das Schlechte nicht erfährst, kannst du das Gute nicht erkennen.«
Was sollte er darauf antworten? Sam entschied sich zu nicken und seinen Blick schweifen zu lassen. Die Dämmerung warf atemberaubende Farben um die Berge die sich zwischen den Bäumen zeigten. Ein beruhigendes Panorama.
Für einen kurzen Augenblick, hatte Sam den Spielautomat vergessen, ebenso wie Jessica, und schlicht die Natur genossen – dann schallte ihm Björns Bariton entgegen: »Da kommt Sascha!«
Sam sah einen kleinen, rundlichen Mann mit langen roten Haaren den Weg von der Klinik herunter kommen. Ein freundliches Grinsen wurde von einem gestutzten Vollbart und geröteten Wangen umrahmt.
»Na, brüllt dir Björn auch schon ins Ohr?«, spottete der Neuankömmling in Richtung des Schweden.
»Sascha macht gerne Witze über meine laute Stimme«, sagte Björn etwas leiser zu Sam.
»War mir nicht aufgefallen«, witzelte dieser und hielt Sascha seine Hand hin. »Sam.«
»Alexander, aber alle nennen mich nur Sascha.« Mit kräftigem Griff schüttelte er Sams Hand.
»Sascha macht unsere Computer«, kommentierte Björn weiter. »Und er ist ein Spieler.«
Anerkennend nickte Sam Sascha zu. Der Mann wurde immer sympathischer.
»World of Warcraft hauptsächlich. Aber ich hab auch ein Händchen für Battlefield.«
Nicht ganz das, was Sam sich erhofft hatte, aber immerhin.

Den Weg hinunter ins Dorf redete hauptsächlich Björn. Mal hier, mal da, flossen Fragen an Sam in die Unterhaltung ein, gelegentlich murmelte Sascha etwas oder Julia erzählte von bulgarischen Delikatessen, aber hauptsächlich lernte Sam nutzlose Details über Schweden und seine zukünftige Arbeit als Physiotherapeut in der Kurklinik.
Nicht das er viel Aufmerksamkeit investierte.
Allerdings, kurz vor dem Dorf, fiel ein Stichwort, dass ihn aufhorchen ließ.
»… nach meiner dritten Sitzung mit ihm, ist er bloß noch zur Ergotherapie und drei Tage später abgereist. Sein Rückgrat hätte er wirklich besser bei mir gelassen.«
Sam dachte an die alte Frau vorhin. »Was ist das eigentlich für eine Ergotherapie, da in Haus B?«
Alle drei wurden still und verlangsamten ihre Schritte. Sie warfen sich kurze Blicke zu, dann seufzte Björn.
»Weißt du, so genau …«, er suchte Hilfe bei den anderen, das konnte Sam sehen, aber niemand sprang ein. »So genau weiß das niemand. Die Therapie ist ziemlich geheim und wohl auch sehr speziell. Der Professor inspiziert Haus B regelmäßig persönlich.«
»Und die drei Therapeuten, erzählen die nichts?«
»Sie sind nicht gerade gesprächig«, erbarmte sich Julia zu antworten. »Sind ziemlich selten in den Gemeinschaftsräumen und bleiben eher unter sich. Komische Typen.«
»Aber die Patienten, die dort behandelt wurden, die haben doch bestimmt mal was ausgeplaudert.«
»Die Ergotherapie in Haus B ist fast immer die letzte Behandlung in der Klinik. Zwei, drei Tage später sind die Patienten weg«, erläuterte Sascha.
»Die Therapie muss sehr anstrengend sein,« fuhr Björn fort. »Die Gäste sind danach total fertig und wirken um Jahre gealtert. Aber der Erfolg gibt dem Professor Recht, immerhin sind die Gäste kurz drauf fit genug um abzureisen.«
Inzwischen waren sie auf den Straßen des Dorfes angelangt. Kleine Fachwerkhäuser mit urigen Dächern säumten die schmalen Kopfsteinpflasterstraßen. Sam beschloss das Thema zu beenden: »Echt seltsam … und wo ist jetzt diese Kneipe?«

Überraschenderweise sah die Dorfschenke ›Zur langen Erle‹ von Innen richtig modern aus. Die Tische waren gepflegt und gefüllt mit allerlei Menschen verschiedenster Herkunft, der Boden sauber und der Wirt ordentlich angezogen – sogar mit Fliege. Sofort suchte Sam den Schankraum nach einem leuchtenden Glücksbringer ab, doch wurde fürs erste enttäuscht. Ihm lag nichts daran, bei den anderen einen süchtigen Eindruck zu hinterlassen, und entschied daher, zunächst mit einem Bier anzufangen.
Dann dämmerte ihm ein gewaltiger Fehler in seiner Abendplanung.
»Ich merke gerade, ich habe mein Portemonnaie oben gelassen«, seufzte er, als sich die kleine Truppe an einem der hinteren Tische niederließ.
»Oh, keine Sorge Samuel, ich lade dich heute ein. Ist immerhin dein erster Tag.« Zu diesem Angebot hieb ihm Björn mal wieder kräftig auf die Schulter.
Sam lächelte gequält und zuckte mit den Brauen. »Danke«
Sie bestellten Bier und kleine Kräuterschnäpse, Sascha dazu ein Schnitzel mit Bratkartoffeln, und begannen zu plaudern. Entgegen jeder Erwartung, tat es gut mit den anderen zu scherzen und zu trinken. Ab und zu lauschte er den Stimmen an den Nebentischen, allerlei verschiedene Sprachen wurden da gesprochen. Ein echter Touristenort, offenbar. Andere Gäste schien es nicht zu geben.
»Trinken die Leute aus Vals denn nicht hier?«, fragte er in die Runde.
Sascha deutete mit dem Daumen hinter sich. »Da hinter dem Durchgang ist ein zweiter Raum. Da sitzen die Dörfler. Da sieht’s auch mehr wie Dorfkneipe aus, mit alten Schrommeltischen und Flecken und zerrissenen Polstern und so einem nervigen Blinkeautomat. Die bleiben unter sich.«
Sams Herz pochte. »Die … darf man denn da … gucken?«
»Na, verboten ist das nicht«, grölte Björn. Trotz seiner Größe schien ihm der Alkohol schon zu Kopf zu steigen. »Aber glaub mal nicht, dass die dich da willkommen heißen.«
»Ich, ähm … ich geh mir das mal anschauen.«
Sam stand betont langsam auf und lächelte in die Runde. Er konnte sich keinen Grund vorstellen, warum er in den hinteren Teil gehen sollte, außer dem Automaten dort – also vermied er es sich zu erklären. Er wusste selbst nicht, worauf er hoffte. Manchmal, ganz selten ließ jemand ein Spiel übrig. Ein einziges Spiel würde ihm jetzt gerade viel bedeuten. Vorsichtig quetschte er sich zwischen den Stühlen und Tischen hindurch, entschuldigte sich betont, bei jedem den er anstieß, und ging dann geradewegs zu dem gewiesenen Durchgang. Die Toiletten waren ebenfalls dort, ein willkommener Zufall, den er später sicherlich für ein, zwei kleine, unauffällige Reisen in den Hinterraum nutzen konnte. Ein kurzer, verwinkelter Gang sorgte mit dafür, dass der Lärm der Touristen hinter ihm verblasste, als er durch einen Perlenvorhang in den hinteren Kneipenbereich trat.
Der Raum stank erbärmlich nach Zigaretten. Die Einrichtung war alt und verbraucht, ebenso wie die wenigen Gäste. Aber es gab eine eigene Theke hinter der ein älterer Wirt in einfachen Klamotten stand und sich mit einem Gast am Tresen unterhielt. Nachdem Sam eingetreten war, verstummte das Gespräch und viele Augen richteten sich auf ihn.
»Die Toiletten sind da rechts, Freundchen«, knurrte der Wirt.
Sam warf seinen Blick durch den Raum. Auf den ersten Blick war kein Automat zu sehen, dann fiel ihm eine verräterische Verfärbung an der Wand zu seiner Linken auf. Die Leute hier kannte er nicht, sie waren ihm egal, also sah er keinen Grund seine Absicht zu verschleiern.
»Gibt es hier einen Spielautomat?«
Der Wirt stutzte. »Nicht mehr«, antwortete er dann zögernd. »Der alte Urs hat seine ganze Rente da reingeworfen, da hab ich das Ding wieder weggegeben. Warum fragst du?«
»Ich … gibt es noch eine andere Kneipe oder so? Einen Ort, wo so ein Spiel steht?«
»Nicht in diesem Dorf«, schnaubte der alte Schankwirt, »da musst du nach Chur, vermute ich.«
Sam war enttäuscht. Eigentlich gab es keinen Grund, länger bei den Einheimischen zu bleiben, bloß zu seinen Kollegen zurück wollte er ebenfalls nicht.
»Du bist kein Tourist, oder?«, fragte ein dürrer, alter Typ mit eingefallenen Wangen der am Tresen saß.
Sam entschied sich zu setzen und etwas Spaß zu haben. Mal sehen, wieviel Aberglaube bei den Dorftrotteln hier wirklich herrschte.
»Nein, wirklich nicht«, sagte er, als er neben dem Greis am Tresen Platz nahm. »Ich fange neu in der Kurklinik Aul an.«
Ein Raunen ging durch den Raum. Sein Sitznachbar fuhr sich mit der Hand durch das faltige Gesicht. Die Bartstoppeln am Kinn knisterten dabei.
»Und das hältst du für eine gute Idee, Bub?«, flüsterte er fast.
»Warum nicht? Es ist eine Klinik, weiter nichts.«
Ein anderer, etwas jüngerer Mann – immer noch doppelt so alt wie Sam – der an einem der Tische saß, lachte kurz auf. Sein Gesprächspartner fuhr fort:
»Nein, Bub, nein. Das da oben ist keine Klinik. War auch nie eine. Früher war es mal eine Sommerresidenz von Kaisern und Königen, ein Juwel dieser Gegend, aber seit der verrückte Professor da haust …«
»Was denn, was soll da sein?«, forderte Sam den alten Mann heraus, nachdem dieser eine Weile geschwiegen hatte.
»Ich weiß es nicht. Keiner weiß es. Doch ist es nicht komisch, dass man noch nie einen der Gäste hier draußen gesehen hast? Nicht einen. Und arbeiten tut in der Klinik auch niemand von hier, oder? Alles Auswärtige, Deutsche, wie du, oder von sonst wo wie dieser laute Schwede. Gibt einem zu denken, hm?«
Enttäuscht nickte Sam. Er hatte auf neue Geschichten gehofft, auf mehr Aberglauben, aber offenbar wussten die Valser tatsächlich nichts. Warum sollte er das nicht ändern? Aberglaube muss ja nicht auf der Wahrheit beruhen.
»Ich glaube, Sie übertreiben. Ich habe die Gäste gesehen, ganz normale Leute. Allerdings … es ist schon seltsam, dass alle Gäste die kommen alt sind. Runzelig. Dagegen sind alle Gäste, die die Klinik verlassen jung und stark.«
Einen Moment ließ er seine Worte wirken. Aus dem Augenwinkel nahm er war, dass die anderen Gäste interessiert ihre Köpfe reckten.
»Aber, was weiß ich schon? Ich fang gerade erst an zu arbeiten, man wird mir das schon noch erklären. Gut, ich lasse die Herren mal in Ruhe, schönen Abend noch.«
Ohne zurück zu blicken, drehte sich Sam herum und verließ den Raum mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Die alten Trottel würden sich noch Monate mit dem Jungbrunnen-Gerücht auseinandersetzen.

Der restliche Abend verging ereignislos. Sein Streich hatte ihn nur kurz von seinem Spielverlangen abgelenkt. Über sein Bier gebeugt und halbherzig den Scherzen von Björn lauschend, sprangen seine Gedanken zwischen zwei entscheidenden Punkten hin und her: Hatte er wirklich so wenig Selbstbeherrschung, dass er unbedingt spielen musste? Und wie fand er eine Möglichkeit, um endlich wieder zu spielen? Er vermisste sein Handy, seinen Computer.
Als sie zahlten, und Björn wie versprochen Sams Deckel beglich, waren bereits die meisten Touristen fort. Sie traten hinaus in die kalte Nachtluft, die frisch durch Sams Atemwege fuhr. Er war der letzte von ihnen, doch bevor sich die Eingangstür der ›langen Erle‹ hinter ihm schloss, spürte er unerwartet eine Hand auf seiner Schulter. Erschrocken drehte er sich um und schaute einem uralten Glatzkopf, mit schlohweißen Bartfetzen um den Mund, in die Augen.
»Sie haben mich …«, begann Sam, doch der Mann unterbrach ihn.
»Du darfst nicht auf die Stimmen hören, verstehst du? Hör nicht hin, hör … hör einfach nicht hin.«
Der düstere Tonfall und die gesenkte Stimme ließen Sam frösteln. Vielleicht war es aber auch der Windstoß, der um das Haus blies. Björn kam zurück.
»Hey, Farfar, lass uns in Frieden«, schnauzte er lauthals. Dann zog der große Schwede Sam hinter sich her und fuhr, weiterhin laut, fort: »Die Dörfler hier sind alle abergläubisch und dumm, die Alten sind die schlimmsten. Komm, wir haben ein gutes Stück vor uns.«
Sam warf noch einen Blick über die Schulter, aber der alte Mann war weg. Die seltsame Begegnung ließ seinen alkoholumnebelten Geist taumeln. Was der Greis wohl gemeint hatte? Doch schon wenige hundert Meter weiter, während sie zwischen dichten Bäumen langsam den Berg hinauf wanderten, waren Sams Gedanken wieder geordnet. Für ihn hatten sich, als sie das Tor zur Klinik passierten, drei Ideen verfestigt:
Entweder, er plante schnellstmöglich einen Ausflug nach Chur – da gab es sicherlich Spielhallen. Nur wusste er nicht, wie er Ausflug und Spiel bezahlen sollte.
Oder er fragte Sascha – der Mann wirkte nett und hatte Zugriff auf Internet und Computer. Allerdings könnte das dazu führen, dass Gerüchte entstanden. Konnte er dem Mann vertrauen?
Oder er suchte einen Psychologen auf und ließ sich helfen. Ein verrückter Gedanke, aber manchmal, manchmal nicht von der Hand zu weisen.


3 Wege - Spielen oder nicht?

  • Dieser Sascha macht einen vernünftigen Eindruck, da geht was (57%, 4 Stimmen)
  • Auf nach Chur! Das Geld kriegen wir schon irgendwie ... (29%, 2 Stimmen)
  • Hier gibt es wohl auch einen Psychologen. Wir sollten Hilfe suchen ... (14%, 1 Stimmen)

Stimmen: 7

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