Fortsetzungsnovelle Stimmen: Monat 7 – Der Botschafter

Wie immer 2 Wochen Zeit zum Abstimmen, die Umfrage endet am 31.01.

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»Oh, ja, das war natürlich mein Fehler«, begann sich Sam raus zu reden. Ihm hätte klar sein müssen, dass die Bank sein Konto sperren oder löschen würde. Jetzt brauchte er eine plausible Geschichte für die Personalerin.
»Wissen Sie, ich habe das Konto natürlich gekündigt, weil … ich ja in der Schweiz auch ein schweizer Konto brauche. Ich wollte noch eines in Zürich eröffnet haben, aber irgendwie habe ich das dann vergessen und aus reiner Gewohnheit habe ich ihnen die alten Daten aufgeschrieben. Ob ich in Chur ein neues Konto aufmachen kann.«
»Warum sollten Sie ein schweizer Konto brauchen?«, fragte Frau Perez irritiert.
»Na, die Schweiz ist da nicht in der EU und dann dachte ich …« Sam ließ den Satz unvollendet und gestikulierte vage mit den Händen. Er wollte lieber als Trottel dastehen, als seine Schulden zugestehen.
»No, no, no, Sie hätten natürlich das Geld auf ein deutsches Konto bekommen können. Und als deutscher Staatsbürger können Sie hier in der Schweiz nicht einfach ein Konto eröffnen – wenn Sie kein deutsches Konto haben.«
»Oh je«, pfiff Sam seufzend hervor. »Aber warum haben Sie eigentlich mit der Bank gesprochen? Mein Vertrag geht doch eigentlich erst ab nächsten Monat?«
Sie lächelte. »Professor Unterbruch hat mich gebeten, ihren ersten Lohn bereits anzuweisen. Sie helfen ja bereits Björn. Aber ohne Konto geht das natürlich nicht.«
»Und was mache ich nun?«, fragte Sam leicht weinerlich.
»Sie müssen dringend nach Deutschland und dort ein Konto eröffnen. Wirklich, Sie haben Sich keinen Gefallen getan, der Bank einfach zu kündigen. Vielleicht fahren Sie mal nach Konstanz, da gibt es Banken.«
Theatralisch schüttelte Sam den Kopf. »Aber ich habe weder Auto noch Geld. Und wenn ich keinen Lohn bekomme, wie soll ich dann reisen?«
Frau Perez verzog den Mund. »Mierda«, fluchte sie Kopfschüttelnd. »In Ordnung. Ich werde Ihnen Ihren ersten Monatslohn bar auszahlen.«
Das breite Grinsen auf Sams Gesicht war echt.
»Ich fahre morgen zum Automat und hole das Geld. Aber bis nächsten Monat will ich eine gültige Kontonummer, verstanden?«
»Sie sind ein Engel, Senora Perez«
So schnell lösten sich manche Probleme.

An diesem Abend saß Sam alleine in seinem Zimmer und schaute grübelnd aus dem Fenster. In der Zwischenzeit hatten erst Björn, und etwas später Julia, angeklopft und ihn gefragt, ob er nicht in den Gemeinschaftsraum kommen mag oder ›das Spiel‹ ansehen wollte. Er hatte nicht einmal gefragt, um was für ein Spiel es sich handelte. Eigentlich war Sport doch langweilig – so ohne Wette. Stattdessen hatte er sich Ruhe ausgebeten.
Jetzt dachte er nach.
Die Kurklinik und all die Ereignisse der letzten Tage kamen ihm wie ein Traum vor. Ein seltsamer Traum. Und morgen würde er sogar Geld in der Tasche haben. Konnte all das ein Fingerzeig sein, gelenkt von einer höheren Macht? Wohl kaum. Trotzdem, er hatte hier die Chance auf einen Neuanfang. Jessica hinter sich lassen, Berlin und all die Dinge vergessen. Die letzten Jahre hatte er verschwendet, an eine Frau, die ihn für den erst besten sitzen gelassen hatte und den Traum vom großen Gewinn, der ihn an den Rand des Ruins getrieben hatte. Seit seinem letzten Spiel waren vier Tage vergangen. Vier Tage. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, wie eine ferne Vergangenheit, damals, in einer anderen Welt, erlebt von einem anderen Ich. Er sah in seiner Portmonee nach, einige wenige Cents waren darin, kein ganzer Euro. Ein zwanzig Cent Stück war auch dabei. Ob es die Münze war, die er nicht in den Automat geworfen hatte, bevor er Berlin verließ, konnte er nicht sagen. Ihm gefiel die Vorstellung, dass sie es war. Er nahm das Geldstück heraus und betrachtete es gegen das abendliche Licht das zwischen den Bergen hindurch in sein Zimmer fiel.
»In Ordnung«, er sprach seine Gedanken laut aus, wie eine Beschwörung. »Du bekommst morgen Geld, aber du rennst nicht nach Chur um einen Automat zu finden.« Mit Schwung knallte er die Münze auf die Fensterbank, ein Symbol für sein Versprechen an sich selbst. »Du wirst mindestens einen Tag warten, bevor du damit spielst. Du bist stärker als der Drang zu spielen.«
Er sann noch eine Weile über die letzten Tage, die seltsamen Leute aus allen Ecken der Welt und die merkwürdigen Patienten nach und ging zu Bett als kein Licht mehr auf die fernen Berge fiel.

Den nächsten Tag begann er damit, neben den üblichen Gewohnheitstätigkeiten wie Duschen, Anziehen und Frühstück, die Arbeitspläne mit Björn abzustimmen. Wo fand man die Anforderungen der Ärzte, welche Patienten standen auf dem Plan und wie wollten sie die Leute aufteilen. Björn beschwerte sich nicht, als Sam ihm den größeren Teil der Arbeit abnahm und sich seinen Tag ziemlich vollpackte.
Die Behandlungen an den fiesen alten Säcken und Wichtigtuern aus aller Herren Länder fühlten sich zäh an, keiner wollte ein Gespräch führen oder war auch nur im Geringsten an Sam interessiert. Was ihm zunächst störte, kam ihm schon bald gelegen. Er führte mechanisch die Handgriffe durch und verlagerte seine Gedanken auf sich selbst. Ein Tag noch, dann durfte er wieder Spielen. Das war seine Abmachung, nicht wahr? Kaum konnte er es erwarten, seinen ersten Lohn in Händen zu halten.
Mittag kam und er aß in der Mensa einen Kartoffelauflauf mit Wildfleisch. Eine Weile plauderte er mit Jo, einem Gärtner von den Philippinen und Karsten dem Buchhalter, den er schon am ersten Morgen hier kennen gelernt hatte. Die ganze Zeit fragte er sich, was der Zahlenhengst wohl auf dem Kerbholz hatte. Der verrückte Sascha hatte immerhin behauptet, jeder hier wäre irgendwie auffällig. Mehr als Steuerhinterziehung fiel Sam nicht zu dem dürren, blassen Dänen ein.
Nach der Pause begann seine nächste therapeutische Sitzung, ein schlaksiger Kerl um die vierzig mit außerordentlich tiefen Augenrändern. Die Art wie der Mann mit Sam redete, führte dazu, dass Sam etwas mehr Kraft als nötig in die Griffe legte. Aber auch diesen Patienten überstand er, und das gequälte Seufzen, das der Mann von sich gab, als er aus dem Raum wankte, ließ Sam schmunzeln.
Bevor er seinen nächsten Gast abholen konnte, kam unverhofft Frau Perez in das Zimmer.
»Da sind sie ja. Schon voll bei der Arbeit, wie man hört, sehr gut.«
Sam schenkte ihr ein Lächeln. »Natürlich«, antwortete er knapp.
Einen Moment herrschte Stille und Sam fragte sich, ob er noch mehr sagen musste. Er war erleichtert, als sie weiter sprach: »Ich habe ihr Geld hier.«
Dazu zog sie einen Briefumschlag hervor. Ehrfürchtig nahm er den Umschlag entgegen und warf einen verstohlenen Blick hinein. Ein dickes Bündel von einhundert und zweihundert Franken-Scheinen starrte ihm entgegen.
»Vielen Dank«, sagte er, während er das Geld in seiner Hosentasche verstaute. »Ich habe gleich den nächsten Termin, also …«
»Si, si, natürlich, ich lasse sie weiter arbeiten. Einen schönen Tag noch.«
Bevor sie die Türe hinter sich schloss, blieb sie kurz stehen und schaute noch einmal zurück. Er räumte gerade das Öl zur Seite und legte fragend den Kopf schief, als er ihren Blick sah. Sie verharrte einen Moment, dann sah sie verlegen zu Boden und schloss die Tür.
»Was war das denn«, murmelte Sam und begann den Raum für den nächsten Patienten vorzubereiten.
Es war jetzt zwei Uhr und zehn Minuten. Geld bis zum Abwinken war in seiner Tasche, aber er widerstand dem Impuls die Behandlung Behandlung sein zu lassen mühelos. Morgen um Vierzehn Uhr konnte er sich auf den Weg machen, so stark musste er einfach sein. Heute sollte ihn die Arbeit ablenken, und da er so viel von Björn übernommen hatte, wähnte er gute Argumente zu haben, warum er morgen schon so früh Feierabend machen konnte.
Die weiteren Therapiestunden unterschieden sich kaum von den bisherigen. Einmal kam Björn zwischen zwei Sitzungen herein und fragte ob alles in Ordnung sei oder ob Sam etwas brauche. Ob der Mann wohl dachte, Sam wäre überfordert? Er schickte ihn sofort weg und überlegte während der nächsten Behandlung, was der Schwede wohl verbrochen haben konnte. Es musste einfach Lärmbelästigung gewesen sein, kein Zweifel möglich.
Der letzte Patient an diesem Nachmittag war ein rundlicher älterer Herr, der sich als Botschafter Piotr Aksinjuschka vorstellte. Sein volles, graues Haar hing ihm in dicken Locken bis zu den Schultern, eine winzige Brille saß auf einer übergroßen Nase in einem sonst gutmütigen Gesicht. Der Mann war redselig und ausnehmend freundliche, völlig untypisch für die Gäste des Kurhotels. Sein Deutsch war zwar stark gebrochen, aber er gab sich offenkundig alle Mühe mit Sam Konversation zu halten. Der ungewöhnliche Patient machte Sam neugierig. Schließlich, kurz bevor ihre Stunde herum war, musste er einfach fragen.
»Darf ich Sie etwas fragen, Herr Botschafter?«
»Da, gern Junge. Waz möchteszt du wissen?«
»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber Sie sind so viel angenehmer … ich meine Sie sprechen viel freundlicher mit mir, als praktisch alle anderen Gäste hier.«
Der alte Russe hielt sich den Bauch vor Lachen. »Da, da. Absolucht, mein Junge. Die Leute hier sind vazhno … wichtig. Alle so, so wichtig. Sie haben nie gelernt mit sich selbst zurecht zu kommen. Oder an andere zu denken. Wenn du nur dich wichtig findest, dann du bist ein Durachit’ … ein Arschlock. Wenn du gut bist, mit was du tust, dann kommst du trotzdem weit. Sehr weit. Aber du bleibst ein Arschlock.«
»So einfach?«, fragte Sam zweifelnd.
»Einfach? Prosto? Nein, nicht einfach. Diese Leute müssen immer wichtig sein, weil sie nicht wissen, wie man ein poryadochno Chelovek … ein guter Mensch ist. Alles gespielt, alles falsch. Nicht ehrlich zu sich selbst, nicht ehrlich zu irgendwas.
Ich wollte nie so sein«, er klopfte sich auf die Brust, »und ich trotzdem erfolgreich.«
Die letzten Worte sagte der Botschafter mit Inbrunst. Sam konnte nicht anders, als den Mann zu respektieren. Ein wirklich anständiger Kerl.

Den Abend verbrachte Sam mit einigen der neuen Kollegen aus den verschiedenen Abteilungen, spielte ein paar Runden an der Playstation mit ihnen und fiel erschöpft aber zufrieden in sein Bett.
Bei der morgendlichen Besprechung mit Björn brachte Sam seinen Wunsch zum Ausdruck, nur bis zwei Uhr Behandlungen zu übernehmen. Zähneknirschend stimmte der Schwede zu, immerhin hatte sich Sam am Vortag wirklich bemüht gezeigt. Die Therapiestunden am Vormittag verliefen wie bisher – unfreundliche Patienten, wenig Gespräch. Mit einiger Vorfreude setzte sich Sam dann zum Mittagessen in die Mensa. Keine zwei Stunden noch, dann hätte er sein Ziel erreicht und konnte den Weg nach Chur antreten.
Während er gerade auf einem Stück Pizza herumkaute, kam eine junge Frau auf ihn zu. Ihr Name war zwischendurch gefallen, Sandra oder Saskia oder so etwas.
»Hey, Sam, da bist du ja. Björn hat angedeutet, dass du heute Nachmittag frei bist. Hast du was bestimmtes vor?«
Sam schluckte schwer an dem Bissen in seinem Mund. »Öhm, ja, ich … ich will in die Stadt fahren.«
»Oh, okay. Verstehe. Weißt du, wir müssen einiges in Haus D umräumen, schwere Möbel, und wir könnten eine helfende Hand gut brauchen.«
Sandra – oder Saskia – war jung, klein und zierlich, mit kurzen blonden Haaren und einem warmen Lächeln auf den Lippen. Beim besten Willen konnte sich Sam nicht vorstellen, dass sie etwas verbrochen haben konnte. Dann dachte Sam an den Botschafter, daran was er über ›sich selbst wichtig finden‹ gesagt hatte. Seine Gedanken wanderten kurz zu der Münze auf seiner Fensterbank. Einen Tag auszuhalten, trotz des vielen Gelds zum Spielen, war ihm nicht schwer gefallen.
»Ich kann auch an einem anderen Tag nach Chur fahren. Wann geht’s los?«
Er würde sich beweisen, dass er noch einen Tag aushalten konnte.

Zusammen mit dem Pfleger Julian und dem Koch Michael schleppte Sam den Nachmittag über Tische, Schränke und Liegen von einem Bereich des Gebäudes in einen anderen, immer unter wachsamen Augen von Sarah – wie ihr richtiger Name war.
Am Abend holte Julian einen guten Whiskey aus seiner Heimat aus seinem Zimmer und die vier saßen lange plaudernd im Aufenthaltsraum.

Björn ließ sich am folgenden Tag nicht erweichen, Sam wieder den ganzen Nachmittag zu schenken. Tatsächlich waren Sams Bemühungen halbherzig. Vielmehr dachte er sich, vielleicht sollte er gleich die ganze Woche ohne Spiel bleiben. Eine echte Herausforderung. Einzelne Tage waren kein Problem, inspiriert vom Botschafter wollte er jetzt mehr, länger durchhalten.
Der Tag ging, der nächste kam. Blöde Patienten, lausige Stimmung, viel Gelächter im Aufenthaltsraum. Hier mal Natasha helfen, dort mit den Köchen plaudern. Ein weiterer Tag, eine weitere Schicht, die Gedanken an Spielautomaten, Wetten und das Geld in seinem Portmonee wurden seltener und kürzer.
Vier Tage nach seiner Behandlung bei dem Botschafter, sah Sam zufällig, wie einer der Therapeuten von Haus C den alten Russen auf einem Rollstuhl aus dem speziellen Haus fuhr. Sam hatte ihn die letzten Tage nicht gesehen und freute sich sofort den gesprächigen Russen zu sehen. Winkend kam er auf die beiden zu. Dann fiel ihm auf, dass der Botschafter apathisch auf den Boden starrte, den Mund halb offen, tief in den Stuhl gesunken.
»Hallo Herr Botschafter, ich wollte mich für das Ge …«, begann Sam, doch der Therapeut hob die Hand.
»Nicht jetzt. Herr Aksinjuschka braucht seine Ruhe. Verpiss dich einfach, Junge.«
Dann schob er den Mann am perplexen Sam vorbei zum Seiteneingang des Hauptgebäudes. Verunsichert sah Sam zwischen dem Haus C und dem Rücken des Therapeuten hin und her. Was sollte er davon halten.

Am Abend noch immer wütend und verwirrt von der Begegnung, beschloss Sam die Augen besonders gut offen zu halten, um einen Moment mit dem Botschafter zu finden.
Nach jeder Therapiestunde, manchmal auch währenddessen, sah sich Sam auf dem Hof um. Spähte umher, und fragte, bald hier bald dort, nach dem Herren Aksinjuschka. Kurz vor Mittag sah er ihn dann über den Hof schlendern, gehüllt in einen weißen Morgenmantel. Sam brachte die Behandlung zu Ende und sprintete dann hinaus, um den Russen nicht zu verpassen. Als sich Sam ihm näherte, hob der Botschafter freundlich die Hand zum Gruß.
»Hallo Herr Botschafter, ich wollte mich für das tolle Gespräch bedanken«, grüßte Sam ihn als er in Hörweite war.
Der Botschafter legte den Kopf schief. »Wir haben gesprochen?«
Irritiert schüttelte Sam sich. »Äh, ja, vor ein paar Tagen … ich habe Sie behandelt. Ihre Schulter und der Rücken.«
Völlig abwesend schaute Herr Aksinjuschka zu den fernen Bergen. »Sind Sie sicher? Ich kann mich nicht erinnern. Khorosho
Der Mann kicherte kurz, zuckte mit den Schultern und drehte sich dann von Sam weg. Ohne ein weiteres Wort oder eine Regung, spazierte er einfach weiter. Sam sah ihm nach, dann schaute er zum Haus C hinüber. Was zum Teufel?

Wie geht Sam mit der Veränderung des Botschafters um?

  • Ich mochte den alten Mann. Ich sollte das untersuchen ... (83%, 5 Stimmen)
  • Alles läuft gerade so gut, lieber nichts riskieren ... (17%, 1 Stimmen)

Stimmen: 6

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