Kurzgeschichte: Flucht: Negativ!

Mit einer Hechtrolle beförderte sich Russel hinter die Mauer, die das verlassene Grundstück umgab. Zu knapp, denn schon klapperten die Schritte der Roboter den Weg entlang.

»Frage. War. Da. Etwas.«

Sie blieben stehen und Russels Herz pumpte wie wild. Er versuchte so gut es möglich war seinen Atem zu kontrollieren, ganz flach, ganz ruhig.

»Aussage. Geräusch. Hinter. Mauer.«

Er war geliefert. Russel sah vor seinem geistigen Auge, wie die Roboter ihre großen Jagdflinten in Anschlag und auf ihn feuern würden. Metall schlug gegen Metall und prallte auf Stein, als sich die mechanischen Füße der Automaten langsam vorwärtsbewegten. Bumm, bumm, schlug sein Herz und Russel spürte schwere in seinen Kopf steigen, während er die Luft nun völlig anhielt. Ein lautes Atmen allein könnte ihn verraten.

Über der Mauer erschien der Lauf eines Gewehres, das Korn unsinnig verziert mit einem Fadenkreuz. Die künstliche Intelligenz, die über den Abzug gebot, brauchte weder Kimme noch Korn, so viel war klar. Bumm, bumm, fühlte er seinen Puls bis in den Hals hinauf. Den Zielalgorithmus hatte er selbst optimiert.

»Aussage. Kein. Leben. Sichtbar.«

Langsam zog sich der Gewehrlauf zurück. Dann entfernten sich klapprige Schritte. Panik stieg in Russel auf, die Jäger waren noch zu nah, er konnte jedoch seinen Körper nicht länger kontrollieren. Er hielt sich beide Hände vor dem Mund, schloss die Augen und atmete so zurückhaltend aus, und ein wie möglich. Sein Herz schlug weiter wie wild und sein Kopf protestierte ob der wenigen Luft. Zeitweise stellte er sogar das Hören ein und Russel verlor das Zeitgefühl. Als er sich seiner Umwelt wieder bewusst wurde, und sein Puls beim normalen Tempo angekommen war, nahm er vorsichtig die Hände vom Mund und lauschte. Der Wind, der über das Gemäuer hinwegfegte, erzeugte scharfe Pfeifgeräusche und in der Ferne krächzte eine Krähe.

Zentimeter für Zentimeter hob er den Kopf und spähte über die Mauer. Keine Bewegung zu sehen, keine Roboter weit und breit. Russel dankte still dem Kernprogramm, dass die beiden zurück auf ihre vorgegebene Patrouillenroute gebracht hatte. Kein spontanes: »Lass uns doch mal hier lang gehen.«

Oder: »Lass uns die Stromzufuhr nur ganz kurz unterbrechen.«

Weder sein Kollege Eric noch Russel hatten ahnen können, dass die winzige Unterbrechung zu einem Reboot und dem Ausfall der Personendatenbank führen würde. Sämtliche Roboter auf der Insel waren für ein paar Minuten ausgefallen – dann hatten drei von ihnen umgehend Eric erschossen.

Das Donnern der Gewehre hallte Russel noch in den Ohren wider. Zum Glück hatten sie die Nachladezeit nie unter neun Sekunden drücken können – gerade genug für ihn, um zu entkommen. Zwar hatte er es nach draußen geschafft und war den Patrouillen entronnen, aber einen Weg von der Insel runter oder zurück in den zentralen Kommandoraum kannte er nicht.

Klappernde Schritte aus Richtung der Mühle kündigten den nächsten Jagdroboter an, dem Rhythmus nach ein W-8 oder W-9 Modell, vermutlich allein unterwegs. Die frühen W-Modelle hatten ausgezeichnete Sensoren erhalten, waren aber immer wieder durch Probleme bei Stabilität und Gang aufgefallen.

»Aussage. Eindringling. Wahrgenommen.«

Russel atmete einmal tief durch, nahm allen Mut zusammen und rannte los. Der W-9, der ein Stückchen weiter seine Flinte hochzog, drehte sich hinter ihm her. Er musste seinen Instinkt überwinden und nicht in Deckung springen, sondern einfach weiterlaufen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Torso des Roboters sich drehte und der Lauf des Gewehrs in seine Richtung schwang, doch er hörte auch die kreischenden Zahnräder. Das Rattern. Bei dem Versuch seinen Fuß nachzuziehen, um die Bewegung des Torsos zu vervollständigen, kippte das zu schwere Kopfteil zur Seite und mit ihm der Rest des behäbigen W-9. Beim Aufprall löste sich ein Schuss, der sein rennendes Ziel verfehlte.

Aber der Knall war vermutlich meilenweit zu hören.

Russel rannte weiter. Die kreischenden Motoren des gestürzten Roboters rebellierten, als der W-9 versuchte aufzustehen. Eine Aufgabe, für die diese Serie nie gebaut worden war. Wie lange es dauern würde bis das Modell erfolgreich war, wusste Russel nicht, und trotz seiner ausgeprägten Neugier, wollte er es nicht herausfinden. In einiger Entfernung sah er einen alten Bauernhof und hielt darauf zu.

Seine Chancen etwas Nützliches zu finden, schätzte Russel zwar nicht besonders hoch ein, aber vielleicht konnte er Verfolger abschütteln und einen Aussichtspunkt erreichen, um das Umland besser einschätzen zu können. Trotz der inzwischen mehr als sieben Jahre auf der Insel, hatte er kein klares Gefühl dafür, wo genau er eigentlich war.

Um es den Jagdhundrobotern und Hetzmechanoiden möglichst schwer zu machen, nahm er einen Umweg über einen gepflasterten Weg, in der Hoffnung dort weniger Spuren zu hinterlassen. Wenig später schaute er sich ein letztes Mal um – kein Roboter weit und breit, sehr wohl aber Geräusche in der Ferne – bevor er den alten Hof betrat.

 Der eisige Wind fegte unerbittlich durch die morschen Bretter, die das baufällige Gebäude mit Mühe auf den Beinen hielten. Einem sturen Greis gleich, der sich mit knorrigen Fingern an das Leben krallt, obwohl seine Zeit längst gekommen ist. Russel wägte ab, wie gefährlich das Erklimmen des oberen Stockwerks – oder gar des Daches! – wohl wäre, und wie viel ihm die Aussicht bringen mochte. Prüfend setzte er den Fuß auf die unterste Treppenstufe. Als er mehr Gewicht auf das Bein legte, gab die Eichendiele merklich nach, brach jedoch nicht. Das Stöhnen des Holzes als Russel mutig den nächsten Schritt machte, paarte sich mit dem Pfeifen des Windes und dem Wanken der Wände, und sang die Melodie vom sterbenden Mann.

Trotz der Warnung hievte sich Russel die Stufen hinauf und kletterte dann sogar eine schmale Leiter in den Spitzboden hinauf. Hier oben pfiff der Wind noch schärfer durch die vielen Lücken im Dach und Russel musste seine Augen mit der Hand vor dem schneidenden Wind schützen. Langsam bewegte er sich über die lückenhaften Dielen vorwärts zu einem kleinen Fenster, das ihm einen milchigen Blick nach draußen ermöglichte.

Grüne Wiesen und brache, überwachsene Felder erstreckten sich vor ihm. In der Ferne erhob sich ein Hügel mit einigen kleinen Gebäuden darauf, ganz weit rechts, südwestlich wenn er den Stand der Sonne bedachte, sah er die Überreste eines Leuchtturms. Russel wusste, dass in den Lagerhallen bei den Klippen alte Boote lagen – vielleicht war eines davon noch seetüchtig? Schon wenige hundert Meter aufs Meer hinaus würden genügen, um aus der Reichweite der Roboter zu kommen.

Ein Geräusch kam näher – schnell näher. Ein hohes Piepen. Hatten die Blechhirne eine Drohne aktiviert? Dann sah er sie den Weg neben dem alten Hof entlangfliegen. Russel duckte sich etwas mehr in den Schatten und hoffte, dass die scharfen Sensoren ihn so nicht entdecken konnten. Die Drohne hielt kurz an, drehte sich im Kreis, justierte einige Sensoren und piepte dabei unablässig. Dann flog sie weiter. Beim Ausatmen wurde Russel klar, dass er die Luft angehalten hatte.

Der Umstand, dass es den Robotern nicht nur gelungen war eine Drohne zu aktivieren, sondern auch auf seine Fährte zu schicken, erfüllte Russel mit einem gewissen seltsamen Stolz. Immerhin bewies es, dass sein adaptives neurales Netzwerk zu beeindruckender Situationseinschätzung und Strategieanpassung fähig war. Andererseits minderte es seine Chancen von der Insel zukommen dramatisch, was diesem technischen Erfolg einen schalen Beigeschmack verlieh.

Vorsichtig kraxelte Russel die brüchigen Dielen wieder hinunter und schlich zur Tür des Bauernhofes. Draußen war es ruhig, der Wind heulte durch die löchrige Fassade und eine Krähe schrie in einiger Entfernung. Kein Metall. Keine Schritte. Kein Piepen.

Russel lief geduckt zum nächsten Baum und peilte von dort die Lage. Den abgerissenen Leuchtturm sah er nicht, aber er wusste welche Richtung er einschlagen musste und nahm allen Mut zusammen. Rund zweihundert Meter rannte er gebückt über das Feld, bis er hinter einer flachen Steinmauer erneut schutzsuchte und nach Robotern Ausschau hielt. Scheinbar hatte ihn keiner bemerkt.

Hinter der Mauer ging es erneut einige hundert Meter über freies Feld, bevor ihm ein kleines Wäldchen Schutz bieten konnte. Ein letzter Blick über die Schulter, dann schwang sich Russel über die Mauer und hoppelte gebückt über das Feld.

Mehr als die Hälfte des wegen zu der Baumansammlung hatte er zurückgelegt, als er einen lauten Knall hörte. Sofort ließ er sich ins Gras fallen. Er hatte kein Projektil gehört, auch keinen Einschlag. Trotzdem war zu vermuten, dass ein Roboter auf ihn geschossen hatte. Sollte er diese Befürchtung verifizieren? Lieber nicht, er robbte und kroch vorwärts, hielt den Kopf unten und hoffte, die Höhe des Grases würde ausreichen, um ihn für den Moment zu decken.

Ein zweiter Knall war zu hören, und diesmal folgte ihm auch das Geräusch des Projektils, das unweit in den Boden einschlug. Russels Herz schlug wild in seiner Brust. Wie lange hatte der Roboter nachgeladen? Er musste einen Lauf riskieren, sonst hätte sich der Roboter spätestens mit dem nächsten Schuss eingeschossen und es wäre aus. Schwungvoll stemmte er sich hoch, rannte los und hielt auf das Wäldchen zu. Ihm war klar, dass er den Wald nicht vor dem nächsten Schuss erreichen konnte. Sein Hoffen galt einem erneuten Fehlschuss.

Peng!

Zisch!

Die Kugel flog links an ihm vorbei, bohrte sich ein in einen Baum etwa fünfzig Meter entfernt.

Ihm blieben nur wenige Sekunden, also nahm Russel die Beine in die Hand und rannte los, leicht schräg auf den nächsten Baum zu der am Rand des kleinen Waldes Deckung bot. Wenige Schritte. Ein beherzter Sprung. Dann kauerte hinter dem Stamm und schon im nächsten Augenblick schlug ein Projektil in diesen ein. Puh.

Ohne lange Pause stemmte sich Russel wieder hoch und rannte zwischen die Bäume. Die Abstände zwischen den Schüssen ließen ihn vermuten – hoffen – dass bisher nur ein Roboter auf seiner Fährte war und kein Modell war in der Lage ihn durch den Wald zu verfolgen. Doch die Schüsse könnten andere Roboter in diese Richtung strömen lassen. Ihm blieb nur auf dem schnellsten Weg zum Leuchtturm zu kommen und zu hoffen, dass kein Jäger zwischen ihm und dem nächsten Boot war.

Schüsse folgten keine mehr, ohne Sichtlinie feuerte der Roboter nicht. Russel zwängte sich durch das Unterholz an den Bäumen vorbei, das Ende des kleinen Wäldchens bereits in Sicht. Wie weit mochte es danach noch bis zur Küste sein? Bevor Russel zwischen den letzten Bäumen heraustrat, wartete er einen Augenblick, verschnaufte und ließ seinen Augen Zeit sich an das Licht des trüben Tages zu gewöhnen. Aus der vom Blätterdach erschaffenen Dunkelheit heraus, dauerte es etwas, bevor er alles sehen konnte. Die höchsten Überreste des Leuchtturms konnte er sehen, noch immer entfernt, aber nähergekommen. Dazwischen ein paar Felder und eine kleine Siedlung. Keine Roboter – bisher. Ein letztes Mal tief durchatmen, dann lief er los.

Die Warnung seines Instinkts war richtig gewesen – von rechts ertönte ein Knall, ein Schuss, und ein Projektil flog über seinen Kopf hinweg. Ein schneller Seitenblick und Russel erkannte den LP-5 der an einen Baum lehnte und die Flinte in seine Richtung hielt. Immerhin. Die LP Serie gehörte zu den schlechtesten Schützen auf der Insel.

Er rannte buchstäblich um sein Leben, hoffte, dass das erste kleine Häuschen der nahen Siedlung erreichbar war.

Peng!

Russel verschwendete keine Zeit darauf zu erahnen, wohin dieser Schuss gegangen war. Seine Gliedmaßen waren heil, also sprinteten sie weiter zu der Hütte, die langsam näherkam. Einen Schuss würde der Roboter noch abgeben können, dann wäre das Dorf sein Schutz.

Peng!

Zip.

Russel strauchelte, spürte Kälte durch seine Wade schießen und streckte die Arme vor, um den Sturz abzufangen, bevor ihm klar war, dass er fiel. Dann kam der Schmerz – und der unwillkürliche Schrei. Sein Bein fühlte sich taub an und die Welt drehte sich als er über den Boden rollte. Quälende Wellen pulsierten durch seinen Körper, Arme, Brust, Kopf – aber vor allem sein Bein. Er blieb einige Meter weiter liegen und versuchte sich zu orientieren.

Der LP-5 hatte ihn verwundet. Blut strömte sein Bein hinunter, benetzte seinen Fuß und die Erde darunter. Sein Blick schwang zum Dorf, zur nächsten Hütte hinüber. Vielleicht lagen noch fünfzig Schritte zwischen ihm und den schützenden Mauern. Fünfzig Schritte mit gesunden Beinen.

Peng!

Russel nahm den Kopf runter, obwohl er eigentlich wusste, dass er niemals schneller reagieren konnte als die Kugel flog. Das Projektil flog über ihn hinweg. Typisch LP-5. Er nahm einen tiefen Atemzug, versuchte den Schmerz zu vergessen und stemmte sich hoch. Dann begann er loszuhumpeln. Sein Bein wollte nachgeben, doch er biss die Zähne zusammen und schleppte sich vorwärts. So wenige Schritte.

Peng!

Kein Treffer, Russel sah das Haus vor sich. So nah.

Plötzlich kam hinter der Hütte ein Roboter mit erhobenem Gewehr her. Russel taumelte zurück, spürte wie die Schmerzen verschwanden, und sein Atem stockte. Er landete unsanft auf dem Boden, starrte den Jäger vor sich an. Die Maschine kam näher und zielte auf seinen Kopf.

»Aussage. Wir. Gewinnen.«

Peng!