Kurzgeschichte – Tausend Jahre

Als Silvie die dunklen Wolken erspähte, die sich in der Ferne zusammenzogen, huschte ein Lächeln über ihre Lippen. Fast drei Wochen hatte es nicht geregnet, Erde und Pflanzen jauchzten bereits nach Erleichterung von der Hitze. Der nahende Regen, da war Silvie sich sicher, würde dem Land guttun – obwohl sich die ganzen sonnenhungrigen Schönlinge garantiert beklagen werden. Was soll man schon von Miami erwarten? Silvie war wohl die einzige Person in ganz Florida, die es vorzog, sich in einem Museum zu verkriechen, während andere zum Strand pilgerten und mit Sonnenöl den Hautkrebs fütterten.

Ihre Füße brachten Silvie nach der Arbeit in das SaMaH, das ›Museum für Süd- und Mittelamerikanische Geschichte‹, ihre Schritte wurden untermalt von dem fernen Grollen des nahenden Gewitters. Laut ihrem Kalender stand der Besuch des Schweinebucht-Museums auf dem Plan, aber dort wurde renoviert, daher zog sie Südamerika eine Woche vor. Keine große Sache.

Trotzdem ärgerlich.

Fast so ärgerlich wie die ersten Tropfen die auf ihren Mantel fielen. Als sie vor dem Museum hielt, bereute Silvie keinen Schirm eingesteckt zu haben. Sonst plante sie erheblich besser, aber vermutlich handelte es sich einfach um einen verhexten Freitag. Falsches Museum, falsches Wetter, immerhin konnte sie sich darauf verlassen, dass ihr dritter Besuch dieses Jahr im SaMaH eine neue Ausstellung bereithielt.

»Guten Abend, Frau Brook«, begrüßte sie der Wachmann, der sich elegant an die Kappe tippte. Sie schenkte ihm ein Lächeln und nickte in seine Richtung. Der Mann arbeitete schon ewig hier und ging langsam auf die Pension zu. Wie oft hatten sie sich schon gesehen? Fünfzig, vielleicht sechzig Mal?

»Auch ihnen einen schönen guten Abend. Wie läuft die neue Inka-Ausstellung?«

An den sinkenden Mundwinkeln in seinem Gesicht, erkannte Silvie, dass für diesen Freitag wohl alle Hoffnung dahin war.

»Es ist eine Schande, Frau Brook. Nach kaum zehn Tagen mussten die Exponate abgebaut werden. Angeblich sei die Darstellung rassistisch geprägt und die Würde des indigenen Volkes nicht genug beachtet worden. So eine Aktivistengruppe und dieser Historienprofessor Velcent haben da eine gerichtliche Verfügung erwirkt. Eine Schande, wirklich.«

Silvie schüttelte den Kopf. »Hat Professor Velcent nicht selbst eine Ausstellung hier?«

»Hat er, in der Tat«, antwortete der Wachmann nickend. »Die ›Ausgrabung in Tula‹, einige wunderbare Fundstücke der Tolteken. Ich vermute ja, dass er die Konkurrenz scheut.«

Ein letztes Mal seufzend, verabschiedete sich Silvie vom Wachmann und ging hinein. Auch wenn es keine neuen Dioramen gab, wollte sie sich die Tolteken-Ausstellung heute einmal genauer ansehen.

Sie brauchte eine gute Viertelstunde, um den Azteken-Flur zu durchqueren – fast zehn Meter ungemein interessanter Geschichte – und in den Saal mit den Tolteken-Artefakten zu gelangen. Interessiert, und doch etwas reserviert, begutachtete sie Tonkrüge und Werkzeuge, Karten und Diagramme, künstlerische Interpretationen und hergerichtete Mannequins. Diese Ausstellung war eine der ältesten im SaMaH und Silvie hatte sie im Laufe der letzten zwanzig Jahre sehr oft betrachtet. Mit Zweiundzwanzig hatte sie diese Vase zum ersten Mal betrachtet, in dem Jahr, in dem sie ihre Leidenschaft für Museen entdeckt hatte. Ihren Rundgang durch die Ausstellung beendete Silvie vor dem größten und aufwändigsten Exponat: Der aufgebahrten Mumie eines Mädchens, vermutlich einer Prinzessin, aus dem Herzen des toltekischen Reiches. Eingehend studierte Silvie den kleinen, traurigen Leichnam, jede Windung des Stoffes, jede …

Ein mächtiger Knall ließ das Glas der Schaukästen klirren und den Boden erzittern. Silvie machte einen kurzen Satz zurück, schloss die Augen und hielt ihre Ohren zu. Es folgte ein zweiter, leiserer Knall. Und Silvie öffnete langsam die Augen.

Alles sah aus wie zuvor. Donner. Sie warf den Blick den Flur hinunter. In der großen Eingangshalle konnte sie sehen, dass sich der Himmel verdunkelt haben musste. Das Gewitter hatte sie erreicht, ein Blitz hatte sie erschreckt, weiter nichts. Sie seufzte erleichtert und trat wieder an den Sarg heran. Auf dem Schild davor, das sie schon dutzende Male gelesen hatte, fiel ihr etwas auf.

»Jahr 1022. Was sagt man dazu, junge Dame, du bist nun schon seit ein Tausend Jahren tot, und doch bereitest du mir jedes Mal Freude, wenn ich dich sehe. Happy Deathday.«

Silvie kicherte über ihren geschmacklosen kleinen Scherz und winkte dem namenlosen Mädchen ein letztes Mal zu, bevor sie ihren Rundgang durch das Museum fortsetzte.

Hier in einem Museum fühlte sich Silvie nach einer anstrengenden Woche endlich wieder lebendig. Außer ihr gab es praktisch keine Gäste, keine Stimmen, nur alte, besondere Dinge, die nichts von ihr erwarteten, außer Silvies Aufmerksamkeit. Und die schenkte sie gerne. Betrachtete jede Nuance, jede Rille, jede kleine Besonderheit ausgiebig und sog die Details in sich auf. In der Welt dort draußen musste alles schnell gehen, und wehe man kam auf die Idee einen lebenden Menschen derart intensiv zu studieren. Im Museum war die Welt noch in Ordnung.

Nach fast drei Stunden schlenderte Silvie entspannt und zufrieden in Richtung des Ausgangs. Wieder einmal hatte sie die Öffnungszeit eines Museums fast komplett ausgenutzt und fühlte sich bereit für das Wochenende. Das Gewitter hatte sich zeitweise entfernt, nur um kurz darauf wieder zu kommen, und jedes Mal, wenn sie einen Blick nach draußen werfen konnte, erblickte sie einen steten Vorhang aus Wasserfäden. So auch, als sie im Rahmen der Eingangstür stand. Sollte sie im strömenden Regen nach Hause laufen? Oder lieber fragen, ob sie noch ein wenig warten durfte, bis das Gewitter nachließ?

Wie auf Befehl blitzte und donnerte es über ihr. Das unheilvolle Grollen brodelte in der dichten, schwarzen Wolkendecke und machte keine Lust auf einen gemütlichen Spaziergang. Silvie drehte sich zum Wachmann, der nun innen stand.

»Meinen Sie, ich könnte warten, bis …«

Ohrenbetäubend krachte es hinter ihr und Silvie spürte die Hitze in ihrem Rücken, während sich der Wachmann die Augen abschirmend wegdrehte. Der Blitz musste direkt hinter ihr in den Boden eingeschlagen sein. War so etwas möglich? Schockiert wandte sich Silvie zur Straße und ihre Augen weiteten sich. Keine zehn Meter entfernt klaffte ein riesiges, schwarzes Loch im Boden vor dem Museum.

Und es grollte immer lauter, die Luft knisterte vor Spannung.

»Oh, Gott …«, stammelte Silvie.

»Kommen Sie weg da«, rief der Wachmann und packte Silvie, zog sie tiefer in das Gebäude. »Sind Sie verletzt?«

Sie konnte nur den Kopf schütteln, unfähig das Geschehene vollkommen zu erfassen. Wieder donnerte es ganz nah, viel zu nah, und Silvie klammerte sich an dem armen Wachmann fest. Was er wohl von der verschreckten Schrapnelle halten mochte?

Hinter den Fenstern erhellten Blitze den tiefschwarzen Himmel, gefolgt von Donner, der in Silvies Ohren schmerzte. Das Zentrum des Gewitters musste direkt über ihnen sein.

Plötzlich prallte ein Blitz gegen eines der Fenster und ließ mit höllischem Krachen das Fenster zerspringen. Silvie gab einen Schrei von sich, und auch der Wachmann zuckte merklich zusammen. Den Regen, der jetzt ungehindert in das Gebäude peitschte, hörte Silvie nicht – ihre Ohren klingelten zu stark von der plötzlichen Belastung.

»Wir müssen tiefer rein, weg von den Fenstern, es ist zu gefährlich«, brüllte der Wachmann und zog die überforderte Silvie hinter sich her. Sie liefen ein Stück, während immer neue Blitze auf oder neben dem Museum einschlugen. Zwischen den Blitzen herrschte nun Dunkelheit – offenbar war der Strom ausgefallen.

»Das ist doch nicht normal, das ist doch nicht normal«, stammelte Silvie immer wieder, während das Klingeln nur langsam abnahm.

Sie blieben in der Ausstellung zu den Tolteken stehen, wo alles etwas leiser war, und atmeten durch. Wegen der fehlenden Fenster war es fast vollkommen dunkel, selbst die ständigen Blitze erhellten den Raum nur flüchtig.

»Danke«, brachte Silvie ihren ersten klaren Gedanken hervor und hielt weiterhin den Arm ihres Retters fest. »Vielen, vielen Dank.«

»Alles wird gut, es ist nur ein Sturm«, sagte der Wachmann. Hatte er sie gehört? Oder klingelten seine Trommelfelle noch mehr als ihre?

»Das ist kein normales Gewitter«, sagte Silvie kopfschüttelnd, »so etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Hier«, begann der Wachmann, sein Lächeln im Zwielicht gerade so zu erkennen, und hielt Silvie an den Schultern, »kann uns nichts …«

Ein blendender Blitz schoss durch die hohe Decke und schlug in den Sarg des jungen Mädchens ein. Glasscherben stoben in alle Richtungen, rissen an Silvies Haut und ihr Gehör verabschiedete sich endgültig nach diesem apokalyptischen Knall. Beide wurden von einer mächtigen Druckwelle von den Füßen gerissen und landeten an der Wand des Saals.

Hustend, unter Schmerzen, tastete Silvie umher. Der weiße Schleier vor ihren Augen lichtete sich kaum, hing wie dicker Nebel vor ihrem Sichtfeld, und das Klingeln hatte sich in ein hoch-frequentes, dauerhaftes Quietschen verwandelt. Sie betastete ihr Gesicht, spürte die kleinen Splitter, die sich unter die Haut gebohrt hatten, und schluchzte. Ein Impuls wollte ihre Hand zum Auge führen, es reiben, doch sie besann sich eines Besseren – wenn sie jetzt Glas in ihre Augen rieb, könnte das irreparablen Schaden anrichten. Sie hustete und richtete sich vorsichtig auf. Inzwischen erkannte sie schemenhaft ihre Umgebung und ihr wurden mehrere Dinge bewusst: Es regnete, durch ein Loch in der Decke, mitten in das Museum hinein, es blitzte aber nicht mehr und der Wachmann war nicht zu sehen. Hätte er nicht neben ihr liegen müssen?

Dann glitt ihr Blick zum Sarg. Was sie dort sah, musste eine Wahnvorstellung, eine Folge des schweren Aufpralls oder des Hörsturzes sein.

Die Mumie des kleinen, toltekischen Mädchens stand aufrecht neben dem Sarg, hielt mit der rechten Hand den leblosen Körper des Wachmanns aufrecht, während die linke Hand seine Eingeweide aus dem Leichnam zog und zu ihrem Mund führte.

Und sie schmatze.

Silvie konnte nichts hören, nichts außer dem hirnzermarternden Fiepen, aber sie wusste es.

Das Mädchen schmatzte.

Und der Wachmann war nur die Vorspeise.

Ein Kommentar

Kommentare sind geschlossen.